»Du überschätzt deine Wichtigkeit, Zwerg«, sagte er. Seine rechte Hand machte eine rasche, kaum wahrnehmbare Bewegung. Die Schatten am Rande des Weges begannen sich zusammenzuballen, wurden zu Körpern und Farben und blitzendem Stahl. Wo vor Sekunden nichts als morastiger Boden gewesen war, erhoben sich plötzlich die Gestalten von Kriegern. Kriegern in zerfetzten, wild zusammengewürfelten Kleidern. Söldner.
Es waren die gleichen Söldner, die er am Ufer des Sees geseckhen hatte. Die Männer, mit denen Cavin geredet hatte.
»Also betrügst du ihn auch«, sagte Mannon leise.
»Betrügen?« Lassar legte den Kopf auf die Seite, als müsse er über das Wort nachdenken. »Ihr Zwerge habt manchmal eine sonderbare Art, die Dinge zu benennen«, sagte er. »Ich habe einen Handel mit dem König von Hochwalden geschlossen. Er verlangte Söldner von mir – ich gab sie ihm. Was ist daran Betrug?«
»Weiß er, dass es in Wahrheit deine Kreaturen sind?«, fragte Mannon.
Lassar machte eine zornige Handbewegung, als wolle er seickne Worte beiseite fegen. »Wo ist der Unterschied, Zwerg? Sieh dich um! Cavin verlangte euren Tod und er wird ihn bekommen.«
»Du Hund!«, zischte der Mann neben Mannon. »Du verdammter Betrüger. Dafür stirbst du!«
Ehe Mannon es verhindern konnte, rammte der Mann seinem Pferd die Sporen in die Seiten und zog sein Schwert. Das Tier stieg auf die Hinterläufe und machte einen gewaltigen Satz nach vorne, direkt auf Lassar zu.
Der Herr der Schatten wartete reglos, bis ihn der Krieger fast erreicht hatte. Dann hob er abermals die Hand.
Mannon konnte nicht genau erkennen, was geschah. Irgendetwas Finsteres, Großes, schien aus dem Nichts aufzutauchen und sich auf den Krieger zu stürzen. Das Kreischen seines Pferdes klang plötzlich panikerfüllt und dann war sein Reiter mit einem Male verschwunden, der Sattel leer und das Tier fuhr mit einem schrillen Wiehern herum und raste davon. Ein Geruch wie nach Blut und Feuer lag in der Luft.
Langsam zog Mannon seine Streitaxt aus dem Sattelgurt. Er wusste, wie wenig ihm die Waffe gegen Lassar nutzen würde, so sicher wie er wusste, dass er diesen Ort nicht mehr lebend verlassen würde. Aber er wollte wenigstens das Gefühl haben, im Kampf zu sterben.
»Du wirst verlieren, Lassar«, sagte er leise. »Du kannst mich töten und diesen Mann hier und den Raett, aber du wirst verlieren. Dein Zauber nutzt dir nichts in diesem Wald.«
»Bisher funktioniert er hervorragend«, antwortete Lassar trocken. »Und was das Töten angeht – ich habe nicht die Absicht, dich zu töten.« Er lachte spöttisch, zwang sein Pferd mit einem Schenkeldruck zur Seite und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. »Geht.«
Ungläubig starrte Mannon den Magier an. »Das ist … eine Falle«, murmelte er. »Hast du nicht einmal den Mut, mich von vorne anzugreifen?«
»Geht!«, sagte Lassar, noch einmal und in scharfem, befehlendem Ton. »Meine Krieger werden Euch nichts zuleide tun. Ihr glaubt, ich würde Cavin betrügen? Geht und fragt ihn. Er erwartet Euch, Zwerg.«
Wieder machte er eine rasche, befehlende Geste mit der Hand, und die Söldner, die den Weg hinter ihm blockiert hatten, wichen nahezu lautlos auseinander. Hinter ihnen, noch weit entfernt, aber rasch näher kommend, sprengte ein Tross von Reitern heran. Mannon erkannte das flatternde Drachenckbanner Hochwaldens über dem Kopf ihres Anführers.
»Es ist Cavin«, sagte Lassar. Seine Stimme klang amüsiert. »Keine Sorge, Zwerg, ich täusche Euch nicht. Ich werde auch nicht versuchen Euch aufzuhalten oder zu hintergehen. Reitet ihm entgegen und sprecht mit ihm.«
Mannon starrte den Magier an, aber Lassar hielt seinem Blick gelassen stand. In seinen dunklen Augen blitzte so etwas wie boshafte Vorfreude auf. »Geht«, sagte er noch einmal.
Ohne ein weiteres Wort trieb Mannon sein Pferd an, schob die Axt in den Sattelgurt zurück und ritt dem König von Hochwalden entgegen.
Ein bitterer Geschmack begann sich auf seiner Zunge auszuckbreiten, und das Gefühl, in eine Falle zu reiten, wurde übermächtig, während Cavin langsam näher kam und er ihn genaucker erkennen konnte.
Der junge König von Hochwalden hatte sich nicht verändert, seit Mannon ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sein Gesicht war noch immer so glatt und unfertig wie das des Jungen, den Mannon vor mehr als sechs Wochen durch den Schwarzeichenwald geführt hatte: das Antlitz eines Mannes, der den Schritt vom Knaben zum Mann gerade erst getan hat und sich seiner neuen Rolle noch nicht vollends bewusst war. Und um seinen Mund lag noch immer der gleiche leicht hochmütige Zug, der Mannon schon damals geärgert hatte. Und trotzdem schien er in den letzten vier Wochen um die gleiche Anzahl von Jahren gealtert zu sein. Er wirkte … härter. Härter und auf schwer zu beschreibende Weise verbittert.
Der Zwerg zügelte sein Pferd und hielt an, als er sich dem Prinzen und dessen Begleitern auf zehn Schritte genähert hatte. Auch Cavin verharrte für einen Moment. Dann gab er den Männern hinter sich ein Zeichen, zurückzubleiben, zog sein Schwert aus dem Gürtel und kam weiter auf Mannon zu.
»Mannon«, flüsterte er. In seiner Stimme bebte ein Ton, den der Zwerg nicht verstand. »Endlich sehen wir uns wieder. Lange genug hat es gedauert.«
»Ihr … Ihr seid in großer Gefahr, Herr!«, begann der Zwerg verwirrt. Cavin kam langsam näher und jetzt sah er, wie sehr sich der junge König doch verändert hatte. In seinem Blick lag ein Ausdruck von harter Grausamkeit, der neu war. Mannon hatte plötzlich das Gefühl, einen fürchterlichen Fehler begangen zu haben.
»Ich muss Euch warnen, Herr!«, rief er. »Ihr seid in Gefahr! Euer Vater ist tot und …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Cavin. »Ich war dabei, als er starb, du Verräter. Aber die Gefahr ist nicht so groß, wie du glaubst: jetzt nicht mehr.«
Mannon kam nicht mehr dazu, über den Sinn dieser Worte nachzudenken. Das Letzte, was er sah, war das Aufblitzen von Cavins Schwert.
19
Die Stille war absolut. In die Grabkammer tief unter dem Bockden, geborgen im schweigenden Schoß der Erde, drang kein Laut, kein Lichtschimmer und kein noch so geringes Anzeichen von Leben.
Dann geschah etwas.
Es war unmöglich, es mit menschlichen Worten und Begriffen zu beschreiben, denn es war etwas, das seinen Ursprung nicht in der Welt der Menschen hatte, sondern einem anderen, älteren und vielleicht höheren Sein entsprang. Geräusche, die kein menschliches Ohr je gehört, Farben, die kein menschliches Auge je geschaut, und Bewegungen, die kein menschlicher Sinn zu erfassen in der Lage gewesen wäre, erfüllten den kleinen, kuppelförmigen Raum.
Dann breitete sich wieder die Stille des Todes über der Katakombe aus.
Aber etwas hatte sich verändert.
Der steinerne Sarg, der auf einem Podest in der Mitte des Raumes gestanden hatte, war leer.
Faroan, der Magier von Hochwalden, war zum zweiten Mal von den Toten auferstanden.
20
In dem Trank, den Animah ihm gegeben hatte, musste etwas gewesen sein, denn Resnec schlief bis weit in den nächsten Tag hinein, und als er erwachte, fühlte er sich so frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Er war allein. Durch die Tür drangen Sonnenschein und die Geräusche des Lagers herein und auf dem Boden konnte er den verzerrten Schatten eines Raett erkennen, breiter als der eines Menschen und mit spitzen, sich ständig bewegenden Katzenohren. Der Anblick rief ihm die Tatsache in Erinnerung zurück, dass er noch immer wenig mehr als ein Gefangener war, so freundlich ihn auch alle beckhandeln mochten.
Er stand auf. Die Bewegung bereitete ihm weniger Mühe, als er geglaubt hatte, obwohl seine Schulter und sein Arm noch immer taub waren; zudem so dick verbunden, dass er den Vercksuch, sein Wams überzustreifen, kein zweites Mal unternahm. Missmutig schlüpfte er in seine Hose, was sich als gar nicht so einfach erwies, da er nur eine Hand zu Hilfe nehmen konnte, und sah gerade noch das spitze Raett-Gesicht seines Bewachers unter der Tür verschwinden, als er sich herumdrehte.