Resnec musste nicht lange warten, bis die Reaktion auf sein Erwachen erfolgte. Der Raett kam zurück, begleitet von Animah, Gwenderon und – Resnec wusste nicht, ob er wirklich froh darüber sein sollte – auch Karelian, der wohl erst im Laufe der Nacht ins Lager zurückgekehrt sein musste, denn er wirkte erschöpft und abgerissen. Trotzdem waren seine Augen wach und das Misstrauen darin war unübersehbar.
»Wie ich sehe, geht es dir besser.« Gwenderon begann das Gespräch, ohne sich mit irgendwelchen Floskeln oder Begrückßungen aufzuhalten, und in seiner Stimme war noch immer die gleiche Kälte, die Resnec kannte. Er war enttäuscht, ohne dass er eigentlich Grund dazu gehabt hätte. Was hatte er erwartet – dass Gwenderon ihn umarmte und ihm einen Bruderkuss gab?
»Eure Pflege war gut«, sagte er. Animah lächelte flüchtig – als Einzige –, aber auch sie wurde sofort wieder ernst.
»Fühlt Ihr Euch kräftig genug zu reden?«, fragte Karelian. Ohne seine Antwort abzuwarten, ging er an Resnec vorbei und setzte sich auf den Boden. Er machte eine auffordernde, ungeduldige Bewegung und Resnec, der Raett und nach kurzem Zögern auch Animah taten es ihm gleich. Nur Gwenderon blieb stehen. Sein Blick sprühte vor Feindseligkeit. Aber Resnec hatte das sichere Gefühl, dass sie im Grunde weniger ihm als den anderen galt. Was mochte zwischen ihnen vorgefallen sein? Er begriff, dass wahrscheinlich er der Grund für einen Streit zwischen Gwenderon und den anderen gewesen war, und es tat ihm Leid. Resnec lag sehr viel daran, Gwenderons Vertrauen zu gewinnen.
»Ihr habt zwei Wochen geschlafen, Resnec«, begann Karelian. »Es ist eine Menge geschehen in dieser Zeit.«
»Lassar weiß, wo euer Lager ist.«
Karelians Züge verdüsterten sich. »Nach dem Attentat auf Gwenderon und Euch hat es wohl wenig Sinn, dies abzustreickten«, sagte er. »Aber das ist nicht alles.« Er sprach nicht weiter, aber sein Schweigen war von einer ganz bestimmten, niedergeschlagenen Art, und mit einem Male fiel Resnec auch auf, wie ernst Animah war und dass der Zorn in Gwenderons Blick nicht diesen beiden galt. Er hatte sich getäuscht. Gwenderon und die beiden anderen hatten sich nicht gestritten. Etwas war geschehen. Etwas Schreckliches.
»Mannon ist tot«, sagte Animah plötzlich.
»Tot?!« Obwohl Resnecs Stimme beinahe zu einem Flüstern herabgesunken war, füllte sie das Innere der kleinen Laubhütte aus wie ein Schrei; ein Fluch, in dem aller Schrecken, aller Unglauben und alles Entsetzen mitschwang, das dieses eine Wort auszudrücken vermochte. »Tot, sagst du? Du bist … dir vollkommen sicher?« Es war nicht wirklich eine Frage, sondern eher ein Ausdruck der Verzweiflung.
»Natürlich ist sie sich sicher.« Gwenderons Augen waren geweitet, als sähe er gar nicht das bleiche Gesicht seines Gegenübers, sondern etwas ganz anderes. Etwas Schreckliches. »Drei seiner Leute haben das Gemetzel überlebt. Sie haben es gesehen. Mit eigenen Augen, Resnec. Cavin hat ihn erschlagen.«
»Cavin?« Resnec starrte den ehemaligen Waffenmeister von Hochwalden fassungslos an. »Er selbst! Aber wie –«
»Sie waren in der Nähe von Hochwalden«, berichtete Karelian. »Ein Späher berichtete, dass er Reiter gesehen habe. Söldckner, die unter Hochwaldens Banner ritten. Mannon ritt hin, um sich selbst zu überzeugen. Auf dem Rückweg lief er in eine Falle.«
»Aber wie kann das sein?«, murmelte Resnec verwirrt. »Mannon hat ihm das Leben gerettet und …«
»Es spielt jetzt keine Rolle, warum er es getan hat«, unterckbrach ihn Karelian. »Er hat es getan, das allein zählt. Wir können uns später den Kopf über das Warum zerbrechen. Jetzt gilt es zu handeln. Mannons Tod ist nicht alles.«
Resnec starrte ihn an und für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht zu einer Grimasse, in der sich Furcht, Unglauben, Zorn und maßlose Verwirrung miteinander mischten. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Du hast Recht, Karelian«, murmelte er. »Verzeih. Es kam nur alles so … so überraschend.«
Er schluckte mühsam, fuhr sich mit einer fahrigen, unsicheren Handbewegung über das Gesicht und wandte sich wieder an Gwenderon. »Sind … alle tot?«, fuhr er fort, noch immer stockend, aber doch hörbar gefasster.
Gwenderon nickte. »Alle«, bestätigte er. »Wen die Söldner am Leben gelassen haben, der wurde von Cavins Garde erschlagen, bis auf zwei Leute und einen von Guarrs Volk, die sich rechtzeitig verbergen konnten.«
»Verbergen? Vor Lassar?« Resnec schüttelte überzeugt den Kopf.
»Du weißt, dass es nur eine einzige Erklärung dafür gibt, dass sie entkommen konnten. Sie haben sie entkommen lassen.«
»Damit man ihnen den Weg zu unserem Lager zeigt«, fügte Karelian heftig hinzu. »Dieser Narr! Wahrscheinlich weiß Cavin jetzt bereits, wo wir zu finden sind. Es würde mich nicht wundern, wenn Lassar wüsste …«
»Das weiß er längst«, unterbrach ihn Resnec. »Ich fürchte, sein Verhalten hat einen ganz anderen Grund.«
»Und welchen?«
»Vielleicht will er sichergehen, dass auch wir wissen, dass er es weiß«, sagte Resnec. Gwenderon runzelte die Stirn und Resnec fügte mit einer erklärenden Geste hinzu: »Ihr selbst habt gesagt, dass seine Magie hier nicht wirkt. Wenn es wirkcklich so ist, Gwenderon, dann weiß auch Lassar davon, er als Erster.«
»Du meinst, er will uns hier herauslocken«, vermutete Animah.
»Ich meine gar nichts«, antwortete Resnec kopfschüttelnd. »Es hat wenig Sinn, irgendwelche Vermutungen anzustellen, wenn Lassar im Spiel ist. Er will uns zu einer Unbesonnenheit verleiten, das ist alles. Versteht ihr denn nicht? So wie es aussieht, können wir nicht viel tun gegen Lassar und seine Krieger. Aber er auch nicht gegen uns.«
»Und wenn er uns zwingt aktiv zu werden –«
»– begehen wir vielleicht Fehler«, führte Resnec den Satz zu Ende. »Richtig. Unterschätzt seine Verschlagenheit nicht. Was immer wir tun, er wird darauf vorbereitet sein. Der Mord an eurem Freund vom Kleinen Volk ist nicht so sinnlos, wie es euch scheinen mag. Lassar will euch provozieren.«
»Es war Cavin, der Mannon erschlug«, sagte Karelian.
»Nicht der Cavin, den Ihr gekannt habt, Karelian«, behaupteckte Resnec. »Glaubt mir – ich kenne Lassar. Er –«
»Trotzdem bleibt keine Zeit zu verlieren«, beharrte Karelian. Von der Ruhe und Überlegenheit, die den Waldläufer sonst immer ausgezeichnet hatten, war nicht viel geblieben. Es war das erste Mal, dass Gwenderon oder einer der anderen deutliche Anzeichen von Panik an dem ansonsten so stillen Mann erkannten. »Wir müssen das Lager aufgeben, Gwenderon. Noch heute. Wir müssen fort, ehe diese Söldner auftauchen.«
»Fort?« Gwenderon wiederholte das Wort auf sonderbare Art. »Und wohin, mein Freund?«, fragte er. »Wir sind so weit vor ihnen geflohen, wie wir konnten. Dieser Ort liegt im Herckzen des Waldes. Hast du vergessen, dass du selbst es warst, der ihn uns gezeigt hat? Und dass du es warst, der gesagt hat, hier wären wir sicher?«
»Sicher vor Lassars Magie, ja«, erwiderte Karelian heftig. »Nicht vor den Schwertern seiner Söldner. Wir müssen fliehen, Gwenderon. Weiter nach Norden, zum Fluss und …«
»Und aus dem Wald heraus, wenn sie uns weiter folgen, nicht wahr?« Gwenderons Worte klangen bitter. »Selbst wenn Lassar so dumm wäre, uns den Rückweg nicht abzuschneiden, Karelian, dann hätte er gewonnen. Welchen Sinn hat unser Wickderstand noch, wenn wir den Wald aufgeben? Worum haben wir so hart gekämpft, wenn wir jetzt Lassar das Feld räumen?«
»Dann müssen wir kämpfen«, sagte Karelian, aber wieder schüttelte Gwenderon den Kopf.
»Du weißt, dass wir das nicht können. Es sind Cavins Krieger, die gegen uns ziehen. Ich kann nicht gegen Oros Sohn kämpfen.«
»Oros Sohn!«, wiederholte Karelian erregt. Zornig deutete er auf Resnec. »Er hat Recht, Gwenderon, und du weißt das so gut wie ich. Du weißt, dass dieser Mann nichts weiter mehr mit Cavin gemein hat als seinen Namen und sein Gesicht. Er ist zu einer Marionette Lassars geworden.«
»Du weißt, dass das unmöglich ist. Seine Macht zählt nicht im Schwarzeichenwald.«