»Dem Herrn der Lügen kann man nur mit Lügen beikommen«, erwiderte Resnec kalt. »Und am Ende entscheidet noch immer Ihr, Gwenderon.«
Gwenderon antwortete nicht mehr, sondern starrte ihn noch einen Herzschlag lang mit unverhohlener Wut an, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und stürmte aus der Hütte.
21
Niemand hatte den Schatten gesehen, der dicht neben der kleicknen Laubhütte stand; nicht einmal der Raett, der vor Augenckblicken an ihr vorübergegangen war, so dicht, dass er den Schatten gestreift hätte, hätte er den Arm auch nur eine Winzigkeit von sich gestreckt. Jetzt verschwand er wieder in das finstere Reich aus Kälte und Dunkelheit, aus dem er gekommen war. Niemand hatte ihn gesehen, niemand hatte ihn gehört, niemand hatte seine Anwesenheit gespürt. Aber der Schatten hatte gesehen; und er hatte gehört.
22
»Schon jetzt?« Cavin nippte an dem schweren, süßen Wein und blickte das Schattengesicht unter der Kapuze zweifelnd über den Rand des Bechers hinweg an. Ohne dass er einen konkreckten Grund dafür hätte angeben können, gefiel ihm Lassars Vorckschlag nicht. Alles ging zu schnell. Wenn er in den letzten Wochen etwas über Lassar gelernt hatte, dann, dass der Herr der Schatten sein Tun sehr gründlich vorzubereiten und minutiös auszuführen pflegte. Eine blitzartige – und noch dazu gefährliche und Cavins Meinung nach ganz und gar sinnlose – Änderung seiner Pläne passte gar nicht zu ihm.
»Was ist geschehen?«, fragte er, als Lassar auf seine erste Frage nicht antwortete. »Ihr spracht von drei Monaten, Lassar. Jetzt ist nicht einmal die Hälfte dieser Zeit vorbei, und von den fünfhundert Kriegern, die Ihr mir schicken wolltet, sind nur weniger als zweihundert hier.«
»Mehr als genug, es mit einer Hand voll Wegelagerer aufzucknehmen«, sagte Lassar abfällig.
»Ihr wisst genau, dass Gwenderons Rebellen alles andere als eine Hand voll Wegelagerer sind«, erwiderte Cavin, sehr ruhig, aber auch sehr überzeugt. »Sie sind uns an Zahl beinahe ebenckbürtig, zumindest im Moment noch, und wenn wir versuchen, sie dort drinnen anzugreifen –«, er wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in der sich die grüne Wand des Schwarzckeichenwaldes hinter den Basaltmauern Hochwaldens verbarg, »– dann schlachten sie Eure Leute ab wie Mastvieh, Lassar.«
»Es sind Söldner«, antwortete Lassar ruhig. »Sie sind zum Sterben da, oder?« Er lachte leise, begann im Zimmer auf und ab zu gehen und blickte schließlich einen Moment in die prasselnden Flammen des Kaminfeuers. Ein schwacher Schimmer der roten Glut durchdrang den wogenden Schatten, der sein Körper war, und ließ ihn in sanftem Licht leuchten. Es war ein unheimlicher Anblick. Cavin hatte das Gefühl, dem Teufel persönlich gegenüberzustehen. Er vertrieb den Gedanken.
»Sprecht, Lassar«, sagte er noch einmal und jetzt mit größerem Nachdruck. »Was ist geschehen, dass Ihr Eure Pläne so überstürzt ändert und Gwenderon nur mit halber Kraft angreifen wollt? Ihr verschenkt den Sieg, wenn Ihr Pech habt, das wisst Ihr.« Er widerstand im letzten Moment der Versuchung, auf Lassar zuzutreten und ihn bei der Schulter zu ergreifen. »Wir haben nur diesen einen Versuch.«
»Unsinn«, widersprach Lassar. »Wir wissen, wo ihr Lager ist, und wir wissen, wie viele sie sind –«
»Noch«, unterbrach ihn Cavin. »Wir können sie überraschen, Lassar, ein einziges Mal. Schlägt der Angriff fehl, dann verstreuen sie sich in alle Winde und wir können zehn Jahre suchen, ehe wir sie aufspüren. Der Schwarzeichenwald ist ein Labyrinth, in dem sich eine Armee verbergen kann.«
»Das ist es, was ich fürchte«, antwortete Lassar ernst. »Verckzeiht, wenn ich das sage, König Cavin, aber es war ein Fehler, den Zwerg zu töten.«
Cavins Hand schloss sich so fest um den Trinkbecher, dass sich das dünne Goldblech verbog. Er erschrak darüber, blickte fast schuldbewusst auf das demolierte Trinkgefäß in seiner Hand und stellte es behutsam ab. »Glaubt Ihr?«, fragte er. Seickne Stimme bebte vor Zorn. Die Erwähnung Mannons allein hatte gereicht seinen Hass wieder aufflammen zu lassen.
»Ja«, antwortete Lassar ruhig. »Die Schuld daran trifft auch mich, denn ich hätte es verhindern sollen. Gwenderon weiß nun, dass Ihr es ernst meint, Cavin. Und er ist kein Narr. Er wird mit einem Angriff rechnen.« Er seufzte, schüttelte ein paar Mal den Kopf und fuhr fort, unruhig in der Kammer auf und ab zu gehen. »Meine Boten berichten mir, dass sich etwas im Wald tut. Die Rebellen ziehen Männer zusammen, sehr vieckle Männer, mein König. Ihre Zahl hat sich bereits verdoppelt. Ich fürchte, wenn wir warten, bis der letzte der fünfhundert Männer hier ist, die ich Euch versprach, sehen wir uns plötzlich einer Übermacht gegenüber.«
»Aber es sind doch nur Wegelagerer und Gesindel«, antwortete Cavin spöttisch, indem er ganz bewusst Lassars eigene Worte nachahmte. »Oder fürchtet Ihr die Zauberkraft des Waldes?«
»Nein.« Lassar blieb ernst. »Dieser Wald hat so wenig Zauckberkraft wie Ihr, oder diese Burg, oder der Becher da in Eurer Hand. Aber er ist ein Labyrinth, wie Ihr selbst gesagt habt. Lassen wir ihnen Zeit, sich auf unser Kommen vorzubereiten, dann laufen wir in eine Falle. Nein, Cavin –« Er schüttelte entschieden den Kopf. »– es muss jetzt sein. Meine Männer stehen bereit. Ein Wort von Euch, und sie brechen noch heute auf. In weniger als zwei Tagen erreichen wir ihr Lager und der ganze Spuk ist vorbei. Ich bitte Euch, gebt den Befehl.«
Lassars Worte übten eine sonderbare Wirkung auf Cavin aus. Meine Männer, hatte Lassar gesagt. Und das waren sie wohl auch, ganz gleich ob er sie offiziell unter Cavins Kommando gestellt hatte oder nicht. Hochwalden hatte sich in ein Heerlager verwandelt. Die nicht einmal fünfzig Männer der Garde waren der dreifachen Anzahl zerlumpter, abenteuerlicher Gestalten gewichen, die auf dem Hof, auf dem freien Gelände jenseits des Grabens und selbst auf der heruntergelassenen Zugbrücke lagerten. Ihr Lärmen und Grölen hallte Tag und Nacht in der Burg wider. Und es waren Lassars Krieger, die Wahl seiner Worte war kein Zufall gewesen. Cavin kam sich vor wie ein Gast auf seiner eigenen Burg.
»Wie viele Männer wollt Ihr mitnehmen?«, fragte er.
»Alle.« Lassar machte eine einnehmende Handbewegung. »Wir werden jeden einzelnen Mann brauchen, Cavin, auch Eure Krieger, selbst Eure persönliche Garde. Sorgt Euch nicht um Hochwalden – ich werde Vorkehrungen treffen, die Burg zu sichern, bis wir zurück sind.«
»Ihr habt bereits alles geplant, wie?«, fragte Cavin. Seine Stimme klang belegt. Es gefiel ihm nicht, dass er nur noch eine Puppe war, an deren Fäden Lassar zog. Lassar nickte und wieckder starrte Cavin endlose Sekunden ins Nichts, ehe er reagierte.
»Was, wenn es misslingt?«, fragte er. »Was, wenn sie uns entkommen, Lassar?«
»Das wird nicht geschehen«, erwiderte Lassar überzeugt. »Ich weiß, was Ihr fürchtet, mein König. Ihr fürchtet, er könne sich an jenen Ort zurückziehen, an dem er unerreichbar für uns wäre.«
»Wäre er das?«, flüsterte Cavin ohne Lassar anzusehen. Vor seinen Augen entstand das Bild einer gewaltigen schwarzen Festung, eines Kolosses aus Granit und erstarrter Nacht, dessen bloßer Anblick etwas in ihm zum Gefrieren brachte.
»Das wäre er«, bestätigte Lassar. »Aber es wird nicht geschehen. Meine Macht reicht nicht bis dorthin, aber ich kann verhindern, dass –«
»Und selbst wenn«, unterbrach ihn Cavin. »Ich würde ihn finden, Lassar. Selbst dort.«
Lassar seufzte. »Ich glaube Euch, mein König. Und das ist es, wovor ich Angst habe. Ihr würdet mit Waffen an diesen Ort gehen und ihn ein zweites Mal entweihen. Ihr würdet Blut an einem Ort vergießen, an dem nicht einmal ein böses Wort ungestraft fallen darf.«
Cavin fuhr herum. Sein Blick bohrte sich in das schwarze Schattengesicht unter der Kapuze. »Was soll das heißen, Lassar?«, fragte er scharf. »Was wisst Ihr von der Megidda? Was bedeuten Eure Worte?«
»Vielleicht nichts«, antwortete Lassar, ohne in irgendeiner Form auf Cavins erregten Tonfall zu reagieren. »Es gibt … Legenden. Düstere Legenden, die uralt sind. Es heißt, was dort geschähe, würde das Schicksal der Welt verändern. Vielleicht sind es wirklich nur Legenden und vielleicht ist es wahr. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.« Er lachte, sehr leise und ohne die geringste Spur von Humor. »Wollt Ihr Gwenderon die Gecklegenheit geben, es herauszufinden?«