Er lachte, aber es klang nicht sehr amüsiert, eher bitter. »Wir versuchen eine Lawine mit bloßen Händen aufzuhalten, Karelian.«
Der Waldläufer sah ihn ernst und beinahe traurig an, antwortete aber nicht. Er wusste selbst am besten, dachte Gwenderon, wie verzweifelt klein ihre Chance war, auch nur die nächste Stunde zu überleben, geschweige denn die Nacht.
Die zweihundert Krieger, die aus entgegengesetzten Richtungen auf das Lager zuritten, stellten nicht einmal die Hälfte von Cavins Streitmacht dar. Selbst wenn das Unmögliche geschehen sollte und sie den ersten Angriff überlebten, würden sie nicht lebend davonkommen. Der Schwarzeichenwald, der ihnen Schutz und Sicherheit versprochen hatte, hatte sich in eine Falle verwandelt. Gwenderon versuchte vergeblich sich einzureden, dass es Lassar und seine Kreaturen waren, die sich in dieser Falle fangen würden. Ihr Plan war aus schierer Verckzweiflung geboren und sein Gelingen hing von so vielen Unckwägbarkeiten ab, dass Gwenderon sich einfach weigerte wirkcklich realistisch darüber nachzudenken.
Faroan, dachte er matt. Faroan, warum hast du uns verlassen? Warum warnst du uns erst, wenn du uns dann nicht einmal sagen kannst, was wir tun sollen?
Gwenderon richtete sich ein wenig hinter seiner Deckung auf und machte eine knappe, befehlende Geste. Eine Hand voll Männer huschte davon, rasch und nahezu lautlos, mit der Geschicklichkeit von Menschen, die jahrelang in einer Umgebung wie dieser gelebt hatten und jeden Fußbreit Boden kannten.
Jemand berührte ihn am Arm, und als er aufsah, blickte er in das braune Pelzgesicht Guarrs. Der Raett war so leise herangekommen, dass er ihn nicht bemerkt hatte.
»Sind deine Leute bereit?«, fragte er.
Guarr nickte ungeschickt, ließ sich ein wenig nach vorne sinken und stützte sich mit der linken Hand am Boden auf, um das Gleichgewicht zu halten. Er hatte seine Kleider ausgezogen und war wieder zu der tierhaften Raett-Gestalt geworden, in der Gwenderon ihn das erste Mal gesehen hatte. Sein brauner Pelz verschmolz mit den Farben der Nacht. Es war eine perfekckte Tarnung.
»Späher zurück«, pfiff er erregt. »Du Recht, Gwenderon. Cavin bei den Reitern. Sie kommen.«
»Ich weiß«, sagte Gwenderon düster. »Ich spüre Lassars Näckhe wie einen Pesthauch. Und wo er ist, ist auch Cavin nicht weit.«
»Aber es viele«, gab Guarr zu bedenken. »Kleiner Bruder zählte hundert. Vielleicht mehr.«
»Hundert von Lassars Kreaturen gegen fünfunddreißig von uns«, murmelte Gwenderon achselzuckend. »Das Verhältnis könnte schlechter sein, findest du nicht?«
Der Raett gab einen schwer einzuordnenden Laut von sich. »Menschen seltsam«, sagte er. »Vielleicht wir gleich alle tot, und du Scherze. Keine Angst?«
»Wer sagt, dass es ein Scherz war?«, knurrte Gwenderon. Er verlagerte sein Gewicht, zog einen Pfeil aus dem Boden und legte ihn sorgsam auf die Sehne, ehe er sich wieder an den Raett wandte. »Natürlich habe ich Angst. Aber wir Menschen sind nun einmal der Meinung, dass es sich für einen Mann nicht gehört, Angst zu zeigen.« Er lachte leise. »Was tut euer Volk, ehe es in die Schlacht zieht, Freund?«, fragte er.
»Wir keine Schlachten«, erklärte Guarr ernst. »Du glaubst, wir Tiere, aber wir bringen nicht gegenseitig um. Menschen töten Menschen. Raett nicht töten Raett.«
»Niemals?«
»Nicht so«, antwortete Guarr.
Der Ruf des Waldvogels erscholl erneut und diesmal war seine Tonlage um eine Winzigkeit höher; der Laut klang warnender und schriller. Gwenderon gebot Guarr mit einer raschen Handbewegung, still zu sein, duckte sich tiefer hinter den Busch, der ihm Deckung gab, und starrte konzentriert auf den Weg hinaus.
Seine Geduld wurde auf keine harte Probe gestellt. Schon nach wenigen Augenblicken wurde die Stille der Nacht abermals durchbrochen – diesmal vom dumpfen Geräusch zahllockser, eisenbeschlagener Hufe, das sich wie das Grollen einer bizarren Brandungswelle rasch näherte und lauter und lauter wurde, bis Gwenderon glaubte, den Boden unter seinen Füßen tanzen zu spüren.
Dann tauchten die ersten Reiter auf.
Sie ritten in Viererreihen, dicht an dicht, sodass sich die Leickber der Pferde berührten, eine schier endlose Zahl großer, waffenstarrender Gestalten, die sich wie einzelne Glieder eines gigantischen Wurms den schmalen Waldweg entlangschlängelten. Es waren an die hundert Gestalten, aber Gwenderon kamen sie wie tausend vor.
Gwenderons Hände wurden feucht vor Aufregung, während die Reiter näher kamen. Seine Finger begannen zu schmerzen, so fest hielt er den Pfeil, und in seinem Magen war plötzlich ein eisiger Klumpen. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Wieder kam ihm zu Bewusstsein, wie verckzweifelt klein ihre Zahl war und wie gewaltig die Übermacht der Feinde.
Er hatte keine Angst vor dem Tod. Der Krieg war sein Handwerk gewesen, solange er denken konnte, und der Gedanke ans Sterben schreckte ihn nicht. Aber es ging nicht nur um sein Leben. Wenn ihr Plan fehlschlug, war die Zukunft des Schwarzeichenwaldes besiegelt; vielleicht für alle Zeit.
Er versuchte den Gedanken aus seinem Schädel zu verbannen und sich zu konzentrieren, aber es gelang ihm nur zum Teil. Sein Blick wanderte unstet über die schier endlose Reihe der Reiter und verharrte schließlich auf einer einzelnen Gestalt, die in strahlendes Weiß und einen goldschimmernden Brustpanzer gekleidet war. Neben ihr ritt ein hünenhafter, ganz in Schwarz gehüllter Reiter.
Irgendetwas war an seiner Gestalt nicht so, wie es hätte sein sollen, dachte Gwenderon. Aber er wusste nicht was.
»Das Cavin«, flüsterte Quarr.
Gwenderon nickte abgehackt. »Ja«, gab er ebenso leise zurück. »Und die Kreatur neben ihm – das muss Lassar sein.«
Seine Hände spannten sich so fest um den Schaft des Bogens, als wolle er ihn zerbrechen. Einen Moment lang folgte die Pfeilspitze der düsteren Schattengestalt Lassars, und Gwenderon musste all seine Willenskraft aufbieten, um das Geschoss nicht abzufeuern. Im letzten Moment riss er den Bogen herum, zielte auf den Rücken des Mannes unmittelbar vor Cavin und ließ die Sehne los.
Der Pfeil verwandelte sich in einen sirrenden Schemen, traf den Mann wie ein gewaltiger Fausthieb und riss ihn aus dem Sattel.
Und im gleichen Moment schien der Wald zu beiden Seiten des Pfades zu todbringenden Leben zu erwachen. Ein ganzer Hagel von Pfeilen und Bolzen regnete auf den Söldnertrupp nieder und das Sirren der Pfeile und das Peitschen der Sehnen mischte sich mit den Schreien der Getroffenen.
Gwenderon legte mit fliegenden Fingern einen neuen Pfeil auf die Sehne, zielte auf den Reiter hinter dem Prinzen und ließ das Geschoss fliegen. Als der Mann stürzte, hatte er bereits seinen dritten Pfeil aufgelegt und schoss.
Unter den Söldnern brach eine Panik aus. Die Pfeile der Angreifer jagten aus Baumkronen und Büschen heran, ohne dass sie auch nur einen ihrer Gegner zu Gesicht bekamen, und die Rebellen schossen so schnell und gezielt, dass schon nach den ersten Salven eine Reihe von Cavins Kriegern tot oder verckwundet aus den Sätteln gestürzt waren. Gwenderon hatte nur die besten und zuverlässigsten Schützen für diesen verzweifelten Angriff ausgewählt und beinahe jeder Pfeil fand sein Ziel. Die Söldner mussten sich einer Übermacht, zumindest aber einem gleich starken Gegner gegenüberglauben.
Aber der Moment der Überraschung hielt nicht lange an. Lassar stieß einen scharfen, weithin hallenden Befehl aus und plötzlich stob die Formation der Reiter auseinander. Aus leichten, nahezu bewegungslosen Zielen wurden hin und her rasende Schatten und mit einem Male gingen die Pfeile der Angreifer ins Leere oder schlugen in hastig hochgerissene Schilde.
Dann erfolgte der Gegenangriff. Die Reiter drängten ihre gepanzerten Pferde rücksichtslos durch das dornige Unterholz und drangen in den Wald ein. Gwenderon schleuderte mit einem Fluch seinen Bogen fort, riss das Schwert hoch und sprang auf, als gleich drei der Söldner sein Versteck ausmachten und auf ihn eindrangen. Neben ihm wuchs Guarrs mächtige Gestalt wie ein zum Leben erwachter Alptraum in die Höhe. Der Raett war waffenlos, aber seine Fänge waren gebleckt, die mächtigen Hände mit den blitzenden Klauen kampfbereit ausgestreckt und seine Augen schienen in Flammen zu stehen.