Plötzlich beruhigte sich sein Pferd und auch Cavin spürte eine sonderbare, fast unangenehme Ruhe, die nicht aus ihm selbst zu entspringen schien, sondern irgendwie von außen in seinen Körper einfloss.
Verstört drehte er den Kopf und sah, dass Lassar eine seiner Schattenhände gehoben hatte und mit gespreizten Fingern gleichzeitig auf ihn und das Tier deutete. Cavin schauderte.
»Beruhigt Euch, mein König«, sagte Lassar. »Er kann uns nicht mehr entkommen. Unsere Krieger haben das Lager umckstellt. Es gibt keinen Ort mehr, wohin er fliehen könnte.«
Cavin starrte den Schattenfürsten an. Für einen Moment flammte noch einmal Zorn in ihm auf und drohte sich auf Lassar zu entladen.
Dann, mehr niedergeschlagen als noch wirklich zornig, rammte er sein Schwert in die Scheide zurück und blickte in die Richtung, in der Gwenderon verschwunden war. Mehr als ein Dutzend Söldner hatten die Verfolgung aufgenommen. Zehnmal so viele würden es in den nächsten Augenblicken tun, um sich die hundert Goldstücke zu verdienen, die er als Belohnung in Aussicht gestellt hatte. Und selbst wenn Gwenderon das Unmögliche schaffte und ihnen entkam …
Lassar hatte Recht. Es gab keinen Ort mehr, wohin er fliehen konnte. Die andere Hälfte ihres Heeres näherte sich der Waldfestung der Rebellen von Norden her. Der Ring schloss sich. Die Falle war zugeschnappt.
»Es besteht kein Grund zur Aufregung, mein König«, sagte Lassar noch einmal. »Der Sieg ist Euer. Keiner von denen, die sich gegen Euch gestellt haben, wird diese Nacht überleben.«
Cavin nickte, aber es war eher ein Reflex als eine Bestätigung. Jetzt, da sein Zorn verraucht war, fühlte er sich sonderckbar leer und müde. Fast, als wäre er der Verlierer, nicht Gwenderon und seine Rebellen.
Warum erfüllten ihn Lassars Worte mit einem solchen Schrecken?, dachte er. Schließlich war er hier, um die Rebellen zu vernichten und den Frieden im Schwarzeichenwald wiederckherzustellen.
Und trotzdem kam er sich so vor, als wäre er es, der den heickligen Frieden dieses Ortes entweiht hatte …
Zornig vertrieb er den Gedanken, griff wieder nach den Zückgeln und zwang sein Pferd herum.
Der Kampf war vorbei, als sie weiterritten. Es war nur eine Hand voll Rebellen gewesen, die ihnen aufgelauert hatte, und nachdem seine Krieger erst einmal ihres Schreckens Herr geworden waren, hatten sie leichtes Spiel mit ihnen gehabt. Hier und da drangen noch Schreie oder das Klirren von Schwertern aus dem Wald, aber am Ausgang des Kampfes bestand kein Zweifel mehr.
Trotzdem hatten sie einen hohen Blutzoll bezahlt. Cavin zählte mehr als zwanzig Tote, während er langsam weiter in nördlicher Richtung ritt, und gut doppelt so viele Männer mussten verwundet sein.
»Das Schicksal dieser Kreaturen braucht Euch nicht zu kümmern, Cavin«, sagte Lassar abfällig.
Cavin sah verstört auf. Seine Augen wurden schmal. »Was soll das heißen, Lassar?«, fragte er scharf. »Lest Ihr meine Geckdanken?«
Lassar lachte leise. »Nein. Das kann ich nicht, und an diesem Ort schon gar nicht. Aber sie sind nicht schwer zu erraten. Euer Blick spricht Bände, mein König.«
Die beiden letzten Worte klangen eindeutig spöttisch, auf eine Art, die Cavin nicht gefiel. Aber er kam nicht dazu, dem Schattenfürsten die scharfe Antwort zu erteilen, die ihm auf der Zunge lag, denn Lassar zügelte plötzlich sein Pferd und deutete mit einer Geste nach vorne. Cavins Blick folgte seiner Bewegung.
Quer über dem Weg lag ein verwundeter Raett. Sein braungraues Fell war dunkel von Blut, und seine Krallen hatten sich im Todeskampf in den Boden gegraben, als hätte er versucht dort Schutz zu suchen. Seine breite Brust hob und senkte sich in schnellen, unregelmäßigen Stößen.
»Guarr«, sagte Lassar.
Cavin fuhr unwillkürlich zusammen, zügelte sein Pferd und besah sich den verwundeten Raett genauer, Lassars Worte lieckßen die Erinnerung an den Führer der Raett-Horde so deutlich wie ein Bild vor seinen Augen aufsteigen.
Und irgendetwas war an diesem Bild falsch.
»Seid Ihr … sicher?«, fragte er stockend.
Lassar nickte. »Ich irre mich nie«, behauptete er. »Das ist Guarr, der Anführer dieser Raett-Kreaturen, mit denen sich Gwenderon verbündet hat.« Er lachte hässlich. »Damit gibt es nur noch ihn, mein König. Und auch das nicht mehr lange.«
Cavin blickte weiter zweifelnd auf den Raett herunter.
Er besann sich vage auf den Stammesführer der Raetts, die ihn und Gwenderon vor den Tauspinnen gerettet und eine Zeit lang den gleichen Weg wie sie genommen hatten. Aber die Erinnerung war seltsam unscharf, als läge sie Jahre zurück, nicht Tage.
Guarr war ein mächtiges, barbarisches Raett-Männchen gewesen, ein Wesen, das nur gebrochen die menschliche Sprache beherrschte und sich viel mehr wie ein Tier denn wie ein vernunftbegabtes Wesen benahm – zumindest auf den ersten Blick hin. Der Raett, der sterbend vor ihm lag, trug einen Waffengurt und neben ihm lag ein zerbrochenes Schwert im Schlamm. Es erschien ihm sonderbar, dass sich der Raett in den wenigen Monaten, die seit ihrer ersten Begegnung vergangen waren, derart verändert haben sollte.
Aber er sprach nichts davon aus, sondern richtete sich ohne ein weiteres Wort im Sattel auf und deutete auf Guarr, dann auf den am nächsten stehenden Söldner. »Töte ihn«, sagte er. Dann ritt er weiter, ohne Guarr und den Krieger auch nur eines Blickes zu würdigen, dem Lager der Rebellen entgegen.
Hätte er es getan, dann hätte er vielleicht gesehen, wie sich Lassars Schattenhand ein zweites Mal auf diese sonderbare, flatternde Weise bewegte und diesmal auf den Söldner deutete. Der Mann hatte sich dem Raett genähert und seinen Speer mit beiden Händen ergriffen, um ihn Guarr zwischen die Schultern zu stoßen. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Ein erstaunter, verwirrter Ausdruck huschte über seine Züge. Einen Moment lang starrte er die Waffe in seinen Händen an, dann den stöhnend daliegenden Raett, dann wieder den Speer – und dann warf er seine Waffe in hohem Bogen davon und ging zu seinem Pferd zurück, um sich den anderen Kriegern anzuckschließen.
Lassar lächelte.
27
Die Burg war leer.
Resnec hatte sich bis zum letzten Moment einfach geweigert es zu glauben – aber der Raett hatte die Wahrheit gesagt. Hochwalden war leer, von jeglichem menschlichen Leben vercklassen, so gründlich, als hätte es in seinen schwarzen Mauern niemals etwas anderes gegeben als Stille und Staub.
Der Abend war längst der Nacht gewichen. Dunkelheit hatte sich wie eine schwarze Glocke über den Hof gestülpt und mit dem kühlen Wind, den der Abend gebracht hatte, trieben Wolken über den Himmel, sodass auch das letzte bisschen Sternencklicht noch verschluckt wurde. Die Türme Hochwaldens waren nicht mehr sichtbar; wenige Manneslängen über den Zinnen der Wehrmauern schienen die Burg und die Welt einfach aufckzuhören und in alles verschlingende, brodelnde Schwärze überzugehen. Es war kalt. Resnec war sicher, dass die Nacht noch Regen bringen würde.
Schaudernd trat er von der Burgmauer zurück und blickte in den Hof hinab. Das ungleichmäßige Rechteck war mit roten Glutpunkten getupft, die wie lodernde Löcher in der erstarrten Kruste eines Vulkanes wirkten. Nachdem sie Hochwalden einer ersten, flüchtigen Untersuchung unterzogen hatten, hatten die Männer Feuer entzündet; gut die Hälfte von ihnen war dabei, alles für das Nachtlager vorzubereiten, während die anderen die Festung ein zweites Mal und gründlicher untersuchten.
Resnec wusste, dass sie nichts finden würden. Hochwalden war leer. Leer und still wie ein gewaltiges, steinernes Grab.
Es war kein Zufall, dass sich Resnec ausgerechnet dieser Vergleich aufdrängte. Er hatte es gespürt, im gleichen Augenckblick, in dem er an Gionns Seite durch das offen stehende Tor gegangen war und sich gegen die Vorstellung gewehrt hatte, es könne hinter ihnen zuschnappen und sie mit stählernen Drachenzähnen zerquetschen: Hochwalden war nicht nur von seicknen menschlichen Bewohnern verlassen. Es war leer. Vollkommen. Es war, dachte er schaudernd, als hätte etwas alles Leben aus der Burg verjagt. Selbst der See, der in der Nacht wie ein gewaltiger Halbmond aus geschmolzenem Pech unter den Burgmauern glänzte, wirkte auf schwer in Worte zu fassende Weise tot.