Ein Geräusch drang in seine Gedanken. Resnec drehte sich herum. Im ersten Moment sah er nichts als einen klobigen Schatten, dann spürte er den scharfen Raubtiergestank eines Raett. Fast ohne sein Zutun lächelte er. Er hatte es sich bisher nicht eingestanden, aber beinahe fühlte er sich in der Nähe der Rattenmänner wohler als in der seiner menschlichen Begleiter. Vielleicht, weil sie wie er Ausgestoßene waren. Gwenderons Männer akzeptierten sie, weil sie sie brauchten und ihre Rebellion ohne die Hilfe dieser riesigen, starken Wesen schon in den ersten Tagen kläglich gescheitert wäre, aber das bedeutete nicht, dass sie sie mochten. Und irgendwie galt dies auch für ihn. Ganz gleich, was Karelian und Animah und der Zwerg gesagt haben mochten – er würde immer ein Fremder unter ihnen bleiben; ganz gleich, was er tat und sagte.
»Gionn. Alles in Ordnung?«
Der Raett versuchte ein menschliches Kopfschütteln nachzuckahmen, was wie immer kläglich misslang; man kann keinen Hals drehen, den man nicht hat. »Nichts in Ordnung«, pfiff er. »Festung verlassen. Nicht gut.«
»Vorhin warst du anderer Meinung«, sagte Resnec.
»Vorhin denken, keine Krieger«, antwortete Gionn ernst. »Jetzt wissen, kein Leben.«
Resnec schauderte. Der Raett drückte mit wenigen, holperig gewählten Worten aus, was er empfand. Setzte er einfach einckmal voraus, dass sowohl Cavin als auch Lassar im gleichen Moment den Verstand verloren hatten, dann war es vielleicht noch denkbar, dass sie Hochwalden einfach verließen, darauf vertrauend, dass sich niemand den reifen Apfel pflücken würde, den sie am Baum zurückgelassen hatten. Aber das erklärte nicht, warum alles Leben aus der Festung gewichen war. Rescknec hatte nicht einmal eine Spinne gesehen, als er sich an der Durchsuchung Hochwaldens beteiligte.
»Du glaubst, es wäre eine Falle.«
»Böser Zauber«, bestätigte Gionn. »Besser, wir gehen.«
»Zauber?« Resnec schwieg einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. Nein – er hätte es gemerkt, wäre Lassars Magie im Spiel gewesen. Er konnte die Nähe des Schattenfürsten spüren, ebenso wie die seiner Kreaturen. »Nein«, sagte er laut. »Es ist keine Magie, Gionn. Wenn es eine Falle ist, dann …«
Er sprach nicht weiter, denn es gab nichts, was er hätte sagen können. Was, dachte er bedrückt, wenn sie Lassar einfach unterschätzt hatten? Wenn sich der Herr der Schatten so sehr mit einem Mantel aus Intrigen und Lügen umgeben hatte, dass sie die Wahrheit nicht mehr erkannten, weil sie so einfach war, nämlich offensichtlich? Was, wenn es Lassar vollkommen gleich war, ob sie Hochwalden einnahmen oder nicht?
»Was tun?«, fragte Gionn. Seine Augen glitzerten im Widerckschein der Feuer, die unten auf dem Hof brannten. Obwohl er Resnec um mehr als anderthalb Haupteslängen überragte, kam er ihm plötzlich klein und hilflos vor. Mit einem Male begriff er, wie unendlich weit Lassar ihnen allen überlegen war. Sie kämpften mit den beiden einzigen Waffen, die ihnen geblieben waren – Tapferkeit und Kraft –, gegen einen Mann, der das Instrumentarium der Lüge und des Betruges zur Perfektion entwickelt hatte, der die Wahrheit so lange zu verbiegen und verzerren gelernt hatte, bis er sie seinem Gegenüber ganz offen unter die Nase halten konnte, ohne dass dieser sie noch zu seckhen vermochte. Was nutzten ihnen die gewaltigen Körperkräfte der Raetts gegen Lassars Lügen, dachte er matt, was Gwenderons Umsicht und die Schnelligkeit und Klugheit der beiden Waldläufer gegen Lassars Heimtücke, was seine eigene Erfahrung gegen Lassars Bosheit?
»Was tun?«, fragte Gionn noch einmal. Seine Stimme klang fast kläglich. »Gehen?«
Vielleicht wäre es das Beste, dachte Resnec. Möglicherweise töteten Lassars Meuchelmörder gerade in diesem Moment alle, die im Lager zurückgeblieben waren, und vielleicht standen sie hier und warteten auf Männer, die nie mehr kommen würden. Aber laut sagte er: »Nein. Wir bleiben, bis die Sonne aufgeht. Haben wir bis dahin keine Erklärung gefunden, reite ich selbst zurück zum Lager. Ihr anderen könnt hier bleiben oder euch im Wald verbergen.«
»Wald besser«, sagte Gionn beinahe hastig. »Dunkel und warm. Gut.«
Resnec lächelte. »Du hast wohl Recht, mein Freund«, sagte er. »Es spielt keine Rolle, ob wir die Festung zwei Tage oder nur zwei Stunden vor Lassars Männern besetzen, nicht wahr? Wir –«
Ein peitschender Laut erklang. Gionn stieß einen schrillen, von entsetzlicher Pein erfüllten Pfiff aus, taumelte zurück und prallte gegen die hölzerne Brüstung des Wehrganges, die unter seinem Gewicht zerbrach. Mit einem gellenden, unendlich hockhen Schmerzensschrei kippte er nach hinten und stürzte in den Hof hinab. Resnec sah gerade noch die zitternde Pfeilspitze, die seinen Schädel durchbohrt und wie eine blutige Zunge zwickschen seinen Fängen wieder hervorgetreten war, dann spürte er selbst ein schmerzhaftes Brennen an der Hüfte und einen Schlag und warf sich gedankenschnell zu Boden. Ein zweiter Pfeil zischte eine Handbreit über ihm durch die Luft, dann zerbarst eine ganze Salve der schlanken, tödlichen Geschosse am schwarzen Fels der Zinne, dicht über seinem Gesicht.
Resnec wälzte sich herum, kroch hastig ein Stück davon und richtete sich auf Hände und Knie auf. Schreie und Kampflärm drangen vom Hof zu ihm herauf und jenseits der Mauern erckhellte plötzlich ein flackerndes, düster-rotes Licht die Nacht. Etwas Riesiges, Brennendes erhob sich in einem Funken sprückhenden Halbkreis aus dem See, prallte gegen die Zinnen und zerbarst in einer grellweißen Explosion, flammendes Öl nach allen Seiten schleudernd.
Resnec warf einen raschen Blick auf den Hof hinab. Die Feuer brannten höher, ein paar waren auseinander gerissen und zu kleineren flackernden Flammennestern geworden, brennendes Öl war in dünnen Bahnen an der jenseitigen Seite der Maucker herabgelaufen und verbreitete ein unheimliches rotes Licht, in dem die durcheinander hastenden Gestalten von Menschen und Raetts zu erkennen waren. Vier, fünf der schwarzen Schatten lagen reglos da, und die anderen schienen einen sinnlosen, wahnsinnig schnellen Tanz aufzuführen, den Resnec sich im ersten Moment nicht erklären konnte. Dann sah er die schwarckzen Schatten vom Himmel fallen und hörte das leise, boshafte Pfeifen und begriff, dass es noch immer Pfeile regnete; hunderte, tausende der tödlichen Geschosse, die jenseits der Burgckmauern abgefeuert wurden. Und es waren viele – so unendlich viele!
Ein Pfeil bohrte sich mit einem dumpfen Schlag zwei Fingerbreit neben seiner Hand ins Holz des Wehrganges. Resnec fuhr zusammen, kroch hastig ein Stück zurück und richtete sich erst wieder auf, als er im toten Winkel unter den Zinnen lag und zumindest im Augenblick in Sicherheit war. Keuchend drehte er sich herum, schob behutsam den Kopf über die Mauer und spähte in die Nacht hinab.
Draußen auf dem See, eine halbe Meile von Hochwalden entfernt, erwachte ein zweiter, grell lodernder Feuerball zum Leckben, zog einen feurigen Schweif hinter sich her und senkte sich mit tödlicher Präzision auf die Plattform des höchsten Turmes Hochwaldens herab, wo er explodierte. Von einer Sekunde auf die andere war der Himmel über Hochwalden in grellrotes, flackerndes Licht getaucht.
Aber Resnec verschwendete keinen Blick auf den brennenden Turm. Er reagierte auch nicht, als ein Pfeil nur wenige Fingerbreit neben seinem Gesicht über den Stein scharrte und klappernd neben ihm zerbrach. Sein Blick war wie gebannt auf die Flöße gerichtet, die sich Hochwalden näherten: flache, mehr als zwanzig Manneslängen im Quadrat messende Flöße, die im grellen Widerschein der Flammen wie schwarze Löcher in der spiegelnden Oberfläche des Sees wirkten. Es waren mehr als ein Dutzend, und auf jedem einzelnen erhob sich ein gewaltiges Katapult, jedes mit einem der schrecklichen Brandgeschosse geladen, von denen schon zwei ausgereicht hatten, einen Teil seiner Männer zu töten und Hochwalden in Flammen zu setzen. Resnecs Blick war auf sie gebannt – und die Armee, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und das freie Feld zwischen Hochwalden und dem Waldrand mit einem zweiten schimmernden Wald aus geschliffenem Stahl und drockhend emporgereckten Pfeilspitzen füllte.