Es waren tausende und aus dem Wald drängten immer mehr und mehr Krieger heran; keine Söldner wie die Männer in Cavins Begleitung, keine Schattenwesen wie die schrecklichen Geschöpfe, die den ersten Sturm auf Hochwalden ausgeführt hatten, sondern Krieger, tausende und tausende Krieger in schwarzen Lederpanzern, die mit der Präzision eines perfekt gedrillten Heeres heranmarschierten, ohne Hast, aber so unaufckhaltsam wie eine Lawine aus Stahl. Plötzlich wusste er, warum er nichts von Lassars schwarzer Magie gespürt hatte. Es war keine Magie im Spiel. Es war Lassars gesamtes Heer.
Resnec sprang auf, fuhr herum und war mit einem Satz an der Brüstung. »Flieht!«, schrie er in den Hof hinab. »Rettet euch, ehe –«
Ein Pfeil traf ihn in den Rücken und tötete ihn.
28
Wie um den letzten Akt des Dramas in angemessener Weise zu beleuchten, war der Mond hinter den Wolken hervorgekommen und tauchte das Lager in silbernes Licht.
Das große, exakt gezogene Rund der Palisadenfestung war still. Die Hütten wirkten auf sonderbare Weise tot und verlassen und der noch immer nicht vollends geschlossene Kreis aus doppelt mannshohen Pfählen schien ihre Hilflosigkeit eher zu betonen. Selbst der Kampflärm, der noch immer gedämpft hier und da aus dem Wald erscholl, schien die Ruhe im Lager der Rebellen noch zu unterstreichen.
Es war kein normales Schweigen, nicht einfach die Abwecksenheit von Geräuschen, sondern das Dasein von etwas anderem, etwas Körperlosem und Unsichtbarem, das wie ein Hauch aus einer fremden Welt über der Lichtung lag, dachte Gwenderon.
Lassars Nähe, die den Wald verpestete und selbst das Atmen schwer machte.
Gwenderon schauderte. Sein Blick tastete unstet hierhin und dorthin, saugte sich an einem Schatten fest und glitt weiter. Die Wunde pochte in seiner Seite und das dumpfe Gefühl der Furcht, das von seinem Herzen Besitz ergriffen hatte, nahm langsam, aber unbarmherzig zu. Und es war eine Angst ganz anderer Art als die, die er während des Kampfes oder irgendckwann einmal vorher gespürt hatte.
Irgendetwas war in diesem Schweigen, dachte er. Etwas, das mit unsichtbaren Händen nach seiner Seele griff und sie erstarren ließ. Mannon und Karelian hatten sich getäuscht. Lassars Magie reichte bis hierher. Möglicherweise gab es auf der ganzen Welt keinen Ort, an den sie nicht reichte.
Vielleicht war es das erste Mal in seinem Leben, dass er wirklich Angst verspürte.
»Wie lange noch?«, flüsterte er.
»Bald. Hab noch etwas Geduld.« Karelians Stimme klang gepresst, und als Gwenderon den Waldläufer ansah, begriff er, dass er mit seiner Angst nicht allein war.
Gwenderon nickte. Selbst diese Bewegung fiel ihm schwer. Alles in ihm schrie danach, diesen Ort mit seiner fürchterlichen Stille zu verlassen, wegzulaufen, so schnell er konnte, ganz gleich wohin. Und sei es in die Schwerter der Söldner. Unsicher begann er auf der Stelle zu treten, bis Karelian ihm einen missbilligenden Blick zuwarf und den Zeigefinger auf die Lipckpen legte. Gwenderon nickte nervös, wandte sich um und blickte den hölzernen Turm in der Mitte des Lagers an. Er war noch immer nicht vollendet und er würde auch nie mehr vollckendet werden.
Mit einem Male erschien ihm der Anblick grotesk; er musste sich beherrschen, um nicht in ein hysterisches Gelächter ausckzubrechen. Bisher war ihm diese Festung im Herzen des Schwarzeichenwaldes stark und uneinnehmbar erschienen. Hatte er sie nicht einmal sogar mit Hochwalden verglichen? Jetzt erkannte er, was sie wirklich war – eine Spielzeugburg. Lassars Reiter würden ihre albernen Palisaden einfach niederckwalzen.
»Jetzt?«, fragte er.
Karelian schwieg einen Moment. Seine Augen wirkten plötzcklich glasig und leer, als lausche er in sich hinein. Dann klärte sich sein Blick und er schüttelte den Kopf.
»Noch nicht«, sagte er. »Wir müssen Geduld haben, Gwenderon. Wenn wir diesmal versagen, ist alles aus. Eine zweite Chance werden wir kaum bekommen.«
Die Worte klangen seltsam bitter und Gwenderon hörte in ihnen auch das, was der Waldläufer nicht aussprach.
Der verzweifelte Angriff auf Cavin und seine Söldnergarde war notwendig gewesen, denn sie mussten sichergehen, dass es auch wirklich Cavin war, der ihnen folgte. Darauf beruhte ihr ganzer waghalsiger Plan. Und darauf, dass der Weg, den sie ihn führen wollten, sich ihnen wirklich im entscheidenden Moment öffnen würde.
Aber wo die Macht der Waffen versagte, konnten sie nur noch auf die Macht des Waldes hoffen.
Wenn Mannon doch noch bei ihnen wäre, dachte Gwenderon. Das Bild seines alten Kampfgefährten stieg vor seinen Augen auf und er spürte einen Kloß in seiner Kehle. Der Zwerg mit seiner unerschütterlichen Ruhe und Erdverbundenheit war tiefer als alle anderen in die Geheimnisse des Schwarzeichenckwaldes eingedrungen und auf Pfaden gewandelt, die gewöhnlichen Sterblichen verboten waren. Nun ging er selbst den dunkelsten aller Pfade …
Zu viele tapfere Männer waren in diesem Kampf schon gestorben. Mehr als dreißig hatten ihren verzweifelten Angriff mit dem Leben bezahlt und die meisten davon waren seine Freunde gewesen. Außer ihm und Karelian selbst hatten nur drei Mann das Lager lebend erreicht.
Auch Guarr war nicht unter ihnen.
Karelian machte ein Geräusch und Gwenderon schrak abrupt aus seinen Gedanken hoch. Die Hand des Waldläufers deutete nach Süden durch die Lücke der Palisade, und als Gwenderon der Geste folgte, sah er einen ganzen Trupp Söldner aus dem Wald brechen und in breiter Front auf die Lichtung ausschwärmen. Sie konnten nur einen kleinen Teil des Waldrandes erkennen, aber Gwenderon wusste, dass es überall so aussah.
An der Spitze des Trupps ritt ein Mann in einer weißgoldecknen Rüstung. In seiner Rechten flatterte das Drachenbanner Hochwaldens. Cavin.
Mit einem Male fielen Gwenderon tausend Dinge ein, die ihren Plan vereiteln mochten. Was, wenn Cavin nicht versuchte die Palisadenfestung zu stürmen, sondern sie schlichtweg niederbrennen ließ? Was, wenn er seine gedungenen Krieger angreifen ließ und wartete, bis sie ihm seinen und Karelians Kopf brachten? Was, wenn Lassars Magie ihnen den Weg versperrte, den die Raetts geschaffen und Karelian erkundet hatte? Was, wenn –
»Sie greifen an«, sagte Karelian, trat einen Schritt vor und stieß den rechten Arm mit dem Schwert in die Höhe.
»Jetzt!«, rief er mit weit schallender Stimme.
Im gleichen Moment begannen Pfeile auf die Reiter herabzuregnen, von übermenschlich starken Raett-Muskeln geschleuckderte Steine und Speere, tödliche Bolzen, die selbst Harnische und Schilde zu durchschlagen vermochten. Der Vormarsch der Reiter kam ins Stocken. Männer sanken reglos aus den Sätteln oder wurden von ihren Pferden abgeworfen, die sich getroffen aufbäumten. Die geordnete Formation der Angreifer verwandelte sich in ein heilloses Durcheinander.
Aber es war nur ein schwacher – und nicht einmal ernst gemeinter – Versuch, das Ende hinauszuzögern. Gwenderon sah, wie sich die zerbrochene Kampfformation des Söldnerheeres rasch wieder bildete und wie viele Männer wieder auf die Rücken ihrer Tiere stiegen, verwundet, aber keineswegs kampfunfähig. Lassars Krieger waren keine Narren. Sie hatten gewusst, was sie erwartete, und waren gepanzert wie urzeitliche Ungeheuer. Ein Pfeil, der nicht aus unmittelbarer Nähe abgeschossen wurde, vermochte ihnen kaum ernsthaften Schaden zuzufügen. Aber das wollte er ja auch gar nicht.
Als wäre dieser Gedanke Gwenderons ein Auslöser gewesen, stieß Cavin seine Standarte in die Höhe und preschte an der Spitze der Krieger los, gedeckt von einem halben Dutzend Reickter auf gepanzerten Schlachtrossen, die sich tief hinter massige Eichenschilde duckten und auch ihn selbst damit zu schützen versuchten. Eine neue, noch wütendere Salve aus Pfeilen und Wurfgeschossen regnete auf die Angreifer herunter und riss zwei von ihnen aus den Sätteln, aber die anderen kamen näher. Der Abstand zwischen ihnen und der durchbrochenen Palisade schmolz rasend schnell.