Einen Moment lang musterte er diesen Fremden, nickte Guarr und den beiden anderen Raetts flüchtig zu und wandte sich an Gwenderon. Auf dem Gesicht des Waffenmeisters lag ein angespannter Ausdruck; er freute sich sichtlich, Cavin wohlbehalten wieder zu sehen, aber sein Ärger war noch nicht verflogen. Wahrscheinlich, dachte Cavin spöttisch, hatte er sich in den letzten drei Tagen damit beschäftigt, seinen Zorn zu pflegen. Entsprechend eisig fiel seine Begrüßung aus. Er nickte nur knapp, deutete mit einer Handbewegung auf den letzten freien Stuhl am Tisch und schenkte Cavin unaufgefordert einen Becher Wein ein.
»Nun, Gwenderon«, begann Cavin, nachdem er einen Schluck von dem heißen, sehr süß schmeckenden Getränk genommen und seine von der Kälte taub gewordenen Lippen wieder geschmeidig gemacht hatte, »bist du gar nicht neugierig zu erfahren, wie es mir ergangen ist?«
»Nein«, antwortete Gwenderon grob. »Ich sehe, dass du leckbend zurück bist. Und das ist schon mehr, als ich erwartet hackbe.«
Cavin lachte, nippte abermals an seinem Wein und stellte den Becher mit spitzen Fingern auf den Tisch zurück. Die Wärme begann allmählich in seinen Körper zu kriechen; ein äußerst unangenehmes Gefühl. Unter seiner Haut schienen Ameisenckarmeen entlangzukrabbeln. Er spürte erst jetzt, wie kalt es draußen gewesen war. Guarrs Raetts hatten vorausgesagt, dass der Frühling in diesem Jahr zeitig kommen würde, Cavin wusste, dass sie sich nicht irrten. Aber ob früh oder nicht, der Winter nutzte seine letzten Tage, sich noch einmal kräftig auszutockben.
»Ich war am Fluss«, begann er, wobei er zuerst Guarr und dann dem Fremden in ihrer Mitte einen raschen, fragenden Blick zuwarf. Guarr antwortete mit einem fast unmerklichen Kopfnicken und Cavin wusste, dass er dem Mann vertrauen konnte. Es war unmöglich, einen Raett zu belügen. Ein gutes Dutzend von Lassars Spionen hatte diese Erkenntnis mit dem Leben bezahlt, als sie gekommen waren, um sich ihnen als angebliche Deserteure anzuschließen. »Irgendetwas geht vor«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht genau was, denn ich konnte nicht dicht genug an das Lager herankommen, aber Lassars Männer entwickeln eine beunruhigende Aktivität.« Er seufzte. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, sie bauen Flöße.«
»Und warum nicht?«, fragte Gwenderon. »Habt Ihr gedacht, sie legen die Hände in den Schoß und warten ab, bis wir zahlreich genug sind sie aus dem Wald herauszuwerfen?«
»Weil der Fluss noch mindestens vier Wochen zugefroren sein wird«, antwortete Cavin ärgerlich. »Spiel nicht den Narren, Gwenderon – und hör endlich auf, den Beleidigten zu markieren, ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue.«
»Manchmal zweifle ich daran«, grollte Gwenderon, war aber klug genug nicht weiterzusprechen, und auch Cavin verzichtete auf eine Antwort. Sollte Gwenderon doch das letzte Wort beckhalten?
»Flöße?«, pfiff Guarr.
Cavin blickte ihn an und nickte. »Eine ziemlich große Anzahl sogar. Aber das ist es nicht, was mir Sorge bereitet.« Er seufzckte. »Sie beginnen den Wald abzuholzen, nicht weit von Hochwalden entfernt. Ich war nicht da, aber ich sprach mit einem deiner Leute, und man hört es einen halben Tagesritt im Umkreis.« Er griff wieder nach seinem Wein, trank jedoch nicht. »Wenn dieser verdammte Winter erst vorüber ist –«
»Brechen sie in Scharen über uns herein und jagen uns bis über den Rand der Welt«, fiel ihm Gwenderon ins Wort. Cavin sah ihn erstaunt an und Gwenderon deutete auf den Mann mit der Augenklappe. »Sarrath hier gehörte zu Lassars Kriegern. Fragt ihn.«
Cavin wandte sich an den Fremden. Der Mann war nicht sehr viel älter als er, aber sein Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, die von einem Leben kündeten, das ihn rasch hatte altern lassen. »Du bist ein Deserteur?«
»Überläufer wäre das Wort, das mir lieber wäre«, erwiderte Sarrath. Seine Stimme war sehr weich und stand in krassem Gegensatz zu seinem Äußeren. Cavin lächelte.
»Gut, dann Überläufer. Du bist nicht der Erste, der zu uns stößt.«
»Ich weiß. Viele sagen sich von Lassar los. Und noch mehr würden es tun, wenn sie den Mut dazu hätten.«
»Vielleicht war es ein Fehler von dir, hierher zu kommen«, sagte Cavin ernst. Sarrath blinzelte – was mit nur einem Auge einigermaßen komisch aussah – und Cavin fügte erklärend hinzu: »Du kennst Lassar – er wird nicht aufgeben. Sobald der Schnee schmilzt und seine Truppen sich frei bewegen können, wird er anfangen uns zu jagen.«
»Er wird es nicht wagen, hierher zu kommen«, behauptete der Deserteur. »Er weiß ja nicht einmal, wo diese Festung ist.«
»Du hast sie auch gefunden«, gab Cavin zu bedenken, aber Sarrath machte nur eine unwillige Handbewegung. »Das war etwas anderes. Guarrs Leute brachten mich hierher und …«
»Und?«
Sarrath schwieg einen Moment. Sein Gesicht spiegelte Unsicherheit. Für einen Augenblick hatte Cavin das bestimmte Gefühl, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen, aber dann wechselte jener übergangslos das Thema: »Er wird euch nicht angreifen. Nicht einmal, wenn er wüsste, wo ihr zu finden seid. Er hat anderes zu tun.«
»Und was?«
»Zum Beispiel am Leben zu bleiben«, versetzte Sarrath erregt. »Lassar fürchtet die Schneeschmelze wie Ihr, Herr, denn sobald die Pässe frei sind, sind seine Tage gezählt.«
Diesmal war Cavin wirklich überrascht. »Was soll das heickßen?«, fragte er.
»Das soll heißen, dass Lassar sich sein eigenes Grab geschaufelt hat, als er Hochwalden niederbrennen ließ«, sagte Gwenderon an Sarraths Stelle. »Ihr hättet Euch Euren gefährlichen Ausflug sparen können, mein König.«
Cavin sah verwirrt auf. Wenn Gwenderon ihn mit mein König ansprach, dann war er entweder besonders verärgert oder versuchte spöttisch zu wirken. Aber er schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter und wandte sich stattdessen erneut an Sarrath. »Sprich.«
»Es sind … nur Gerüchte«, antwortete der Krieger ausweichend. »Nichts, was ich wirklich gehört oder gesehen hätte, aber …«
»Dann wiederhole das, was du nicht gehört hast«, unterbrach ihn Cavin verärgert. »Spiel hier nicht den Geheimnisvollen. Also?«
Sarrath wirkte in zunehmendem Maße verunsichert. Wahrckscheinlich wünschte er sich jetzt weit, weit weg. »Es sind viele Soldaten gekommen in den letzten Wochen«, begann er. »Sehr viele. Unsere … Lassars gesamte Armee«, verbesserte er sich. »Es scheint, dass er alle seine Truppen zusammenzieht, im Süden, in der Nähe von Hochwalden, Herr.«
»Wie viele?«, fragte Cavin.
»Fünftausend Mann bis jetzt«, antwortete Gwenderon. Cavin ignorierte ihn.
»An die fünftausend Mann«, bestätigte Sarrath. »Und es werden immer mehr. Der Weg über die Berge ist hart und gefährlich, solange der Schnee nicht geschmolzen ist, aber sie kommen. Wir erfahren nichts Konkretes, aber ich habe Augen, zu sehen, Herr.«
»Und was siehst du damit?«, fragte Cavin ungeduldig. Er hatte wahrlich keine Lust, irgendwelche rhetorischen Spielchen mit einem Deserteur zu spielen.
»Unterkünfte«, antwortete Sarrath. »Ställe für Pferde, Schmieden und große Mengen an Nahrungsmitteln und Waffen. Genug für sicher dreimal so viele Männer, wie jetzt schon hier sind.«