Die Rechnung war nicht besonders schwierig, aber ihr Ergebnis erschreckte Cavin mehr, als er sich eingestehen wollte. Fünfzehntausend Mann – das musste wirklich Lassars gesamcktes Heer sein. Die Armee, die er bisher gebraucht hatte, all die Länder und Reiche jenseits der Berge zu unterdrücken. Seine stählerne Faust. Aber warum ballte er sie jetzt über dem Schwarzeichenwald zusammen?
»Also haben wir mit einer Offensive zu rechnen, sobald das Frühjahr kommt«, murmelte er.
»Kaum«, erwiderte Gwenderon. »Ihr versteht nicht, mein König – Lassar rückt nicht auf uns vor – er flieht.«
»Er flieht? Vor wem?«
Gwenderon deutete auf den Überläufer. »Rede, Sarrath.«
»Ich … sprach mit einem der Männer, die über die Berge kamen«, begann Sarrath stockend. Er wich Cavins Blick aus. Seine Finger spielten nervös an der Tischkante. »Nachrichten verbreiten sich schnell in der Welt. Die Kunde vom Untergang Hochwaldens ist bis in die entferntesten Länder gedrungen. Lassars Macht ist ins Wanken geraten.«
»Vorsichtig ausgedrückt«, fügte Gwenderon hinzu.
»Was er getan hat, hat eine Woge der Empörung hervorgerufen«, bestätigte Sarrath. »Ich weiß nicht, was von dem stimmt, was mir der Mann erzählte, aber … aber es scheint, dass nicht nur Lassars Truppen auf dem Wege hierher sind.« Er sah auf, versuchte zu lächeln und senkte wieder den Blick. »Unsere … seine Krieger befestigen die Pässe, König Cavin, weil sie fürchten, dass die anderen Königreiche Truppen herschicken könnten.«
»Die anderen Königreiche?«, wiederholte Cavin zweifelnd.
»Lassars Frevel hat die ganze Welt erzürnt«, sagte Sarrath. »Die Kaste der Magier hat ihn ausgestoßen, als bekannt wurde, dass er Hochwalden zerstören ließ. Die nördlichen Länder hackben sich von ihm losgesagt und in Morgoun und in Tiefenburg kam es zu offenen Rebellionen. Euer Waffenmeister hat Recht – es ist kein Aufmarsch, sondern eine Flucht. Überall erheben sich die Menschen gegen seine Truppen. Wenn der Frühling kommt, wird er nicht nur den Winter vertreiben.«
Cavin starrte den Krieger zweifelnd an. Es fiel ihm schwer, seine Worte zu glauben. Andererseits – war es nicht gerade das, worauf sie gehofft hatten? Auf Hilfe von den Ländern auckßerhalb des Waldes, jenseits der Berge, die den Schwarzeichenwald vom Rest der Welt abriegelten?
»Lassar ist erledigt«, sagte Gwenderon. »Der Frevel an Hochwalden ist der Anlass, auf den sie alle gewartet haben, sich endlich von diesem Blutsauger zu befreien.« Er lachte. »Lasst ihn seine Truppen in Hochwalden zusammenziehen, Cavin. Er sitzt in der Falle, denn er kann nicht zurück. Und sobald er versucht den Wald zu betreten, vernichten wir ihn.«
»Sei kein Narr, Gwenderon«, sagte Cavin ruhig. »Du hast Sarraths Worte gehört. Wir sind ein paar hundert Mann gegen fünfzehntausend Krieger.«
»Von denen die Hälfte ihre Waffen davonwirft und zu uns überläuft, sobald es ernst wird«, sagte Gwenderon.
»Dann wäre es besser, sie würden ihre Waffen mitbringen«, mischte sich Guarr ein. Gwenderon warf ihm einen zornigen Blick zu und Cavin unterdrückte abermals ein Lächeln. Der Raett-Führer war rapide gealtert in den letzten sechs Monaten. Die Verletzung, die er beim Kampf um die Waldfestung davongetragen hatte, war niemals richtig geheilt, und sie alle wussten, dass er den nächsten Winter nicht mehr erleben würde. Aber im gleichen Maße, in dem sein Körper verfiel, schien sein Geist aufzublühen. Er sprach die Sprache der Menschen jetzt perfekt und sein Denken war von einer Schärfe und Klarckheit, die Cavin manchmal beinahe Angst einjagte. Wie fast immer hatte er Recht.
»Ein offener Kampf kommt nicht infrage«, sagte Cavin entschieden.
Zu seiner Überraschung widersprach Gwenderon nicht, sondern nickte im Gegenteil. »Natürlich nicht«, sagte er. »Aber es reicht, wenn wir ihn aufhalten. Ihr wisst, wie arm der Wald an Tieren und essbaren Pflanzen ist. Selbst wir haben in den letzckten Monaten die Gürtel enger geschnallt und wir sind nur wecknige hundert. Lassar kann sein Heer nicht verpflegen, und die Vorräte, die er mitgebracht hat, sind irgendwann aufgebraucht. Er sitzt in der Falle. Alles, was wir brauchen, ist ein wenig Zeit.«
»Und genau die wird er uns nicht lassen«, sagte Guarr. Er bleckte die Zähne, eine Geste, die einem menschlichen Grinsen gleichkam, und deutete auf seinen gelähmten Arm. »Muss ich dich daran erinnern, was geschah, als wir das letzte Mal vercksuchten Lassar zu überlisten?«
»Nein«, fauchte Gwenderon. »Aber diesmal ist es –«
»Genug«, unterbrach ihn Cavin, nicht sehr laut, aber in sehr scharfem Ton. Ihr Gespräch begann sich wieder einmal im Kreis zu drehen und es drohte – wieder einmal – in einem Streit zwischen ihm und Gwenderon oder Gwenderon und Guarr zu enden. So sicher sie an diesem verbotenen Ort waren, so gereizt war die Stimmung hier, als griffe etwas von der dücksteren Aura der Megidda nach den Seelen der Sterblichen, die sich angemaßt hatten in ihren Mauern Schutz zu suchen. Cavin war des Streitens einfach müde. Er stand auf. »Lasst uns später über alles reden«, fuhr er fort, »und in Ruhe. Ich bin müde und möchte schlafen, und der Winter dauert noch lange genug, um zu einem Entschluss zu kommen.« Er machte eine bestimmende Geste, dann wandte er sich an Sarrath. »Geh hinunter zu den anderen und lass dir einen Platz anweisen, an dem du schlafen kannst. Morgen nach Sonnenaufgang möchte ich mit dir reden. Allein«, fügte er mit einem Seitenblick auf Gwenderon hinzu. Einem ganz und gar überflüssigen Seitenblick, der, wie er selbst wusste, Gwenderons Ärger nur noch schüren würde. Aber auch das war etwas, was sich in den letzten sechs Monackten geändert hatte: Gwenderon und er waren wieder Freunde, jetzt mehr denn je, aber die Konkurrenz zwischen ihnen wurde deutlicher. Gwenderon zweifelte seinen Rang nicht an; vielleicht war er im Gegenteil froh, die Last der Verantwortung auf Cavins jüngere und stärkere Schultern wälzen zu können. Und trotzdem machte er keinen Hehl daraus, dass er ihn noch immer für das hielt, was er gewesen war, als er hierher kam: ein Kind, das vielleicht wie ein Mann aussah, aber noch nicht gelernt hatte wie ein solcher zu denken.
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Cavin herum und verließ die Kammer. Kurz darauf stieg er ein zweites Mal über den schlafenden Raett-Posten hinweg und wandte sich nach rechts, einem schmalen Gang folgend, der vom Hauptkorridor abzweigte. Aber er ging noch nicht in seine Gemächer zurück, sondern wandte sich an der nächsten Abzweigung in die entgegengesetzte Richtung, bis er zu einer Treppe kam, die in steilen Schneckenhauswindungen tiefer in den schwarzen Schlund der Megidda hinabführte. Er fürchtete die lichtlosen Höhlen an ihrem Ende so sehr wie beim ersten Mal, da er dort unten gewesen war. Aber er war verwirrt. Er brauchte Rat. Vielleicht dringender als jemals zuvor.
2
Sie wusste längst nicht mehr, wie lange sie hier war; ob drauckßen, jenseits der rußgeschwärzten Mauern ihres Kerkers, Tag oder Nacht, Sommer oder Winter, Sonnenschein oder Schnee herrschte. Manchmal, in den Zeiten zwischendurch, in denen es ganz schlimm gewesen war, hatte sie beinahe vergessen, wer sie war. Warum sie hier war, wusste sie längst nicht mehr. Animah richtete sich mühsam auf, hob die Hand, um sich über die Augen zu fahren, und brach die Bewegung ab, ganz kurz bevor die Kette, die den stählernen Ring um ihr Gelenk mit dem Boden verband, sich schmerzhaft spannen konnte. Keine dieser Bewegungen verlangte ihr bewusstes Zutun, denn in den sechs Monaten, die sie nun hier gefangen war, in einer Welt, die nur aus Dunkelheit und Hunger und Schmerzen und Erniedrigungen bestand, hatte ihr Körper gelernt den Weg des geringsten Widerstandes zu finden. Ebenso unbewusst fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die rau und aufgesprungen waren, vom Durst zu Narben entstellt, die wohl nie wieder vollends heilen würden, beugte sich nach rechts und nahm mit spitzen Fingern die Wasserschale auf, in der sich noch ein Rest vom Vortag befand. Obwohl sie schon gar nicht mehr wusste, wie es war, nicht durstig zu sein, hatte sie sich angewöhnt stets einige Tropfen übrig zu lassen, denn sie bekam nicht jeden Tag zu trinken; und niemals genug.