Trotzdem schien heute einer der Tage zu sein, an denen es weniger schlimm war. Sie war von selbst erwacht und nicht durch Schläge geweckt worden und neben der schmutzigen Wasserschale lag ein Stück Brot. Sie aß es, spülte den schlechten Geschmack mit dem allerletzten Schluck Wasser herunter und lehnte sich gegen den feuchtkalten Stein in ihrem Rücken. Ihre Augen waren geschlossen, obwohl sie nicht mehr müde war, aber es gab nichts, was zu sehen sich gelohnt hätte. Sie kannte jeden Fingerbreit des drei Schritte im Quadrat messenden Steinwürfels auswendig, in den sie gesperrt worden war. Sie würde ihn nie wieder vergessen, selbst wenn sie eines Tages hier herauskommen sollte.
Wenn …
Animah hatte den Glauben längst verloren, dass dies jemals geschehen würde. Und selbst wenn – was dann? Wohin sollte sie sich wenden, wenn …
Voller Schrecken begriff sie, dass sie nicht mehr wusste, was jenseits der schimmelbewachsenen Mauern ihres Kerkers lag. Ihre Erinnerungen waren ein schwarzes Loch, alles, was vor der Zeit der Qual gewesen war, ausgelöscht. Es kostete sie Mühe, sich überhaupt auf ihren Namen zu besinnen.
»Animah«, sagte eine Stimme.
Sie fuhr hoch, so abrupt, bis die Ketten die Bewegung schmerzhaft stoppten, und starrte in die Dunkelheit neben sich. Ihr Herz begann zu klopfen.
»Dein Name ist Animah, du Närrin«, fuhr die Gestalt fort. »Du scheinst doch nicht ganz so stark zu sein, wie ich annahm.« Ein Lachen; leise, meckernd und sehr, sehr böse. Die Gestalt stand dicht neben ihr, so nahe, dass sie sie mit der Hand hätte berühren können, wären die Fesseln nicht gewesen, und trotzdem war sie nur ein Schattenriss in der Dunkelheit, ohne Tiefe, fast ohne Kontur; ein Gespenst, das aus ihren Träumen hinüber in die Wirklichkeit gekommen war, um sie zu quälen.
Dabei war Animah vollkommen sicher, dass sich die niedrige Tür nicht geöffnet hatte und dass sie allein gewesen war, als sie erwachte. Und sie hatte die Frage, wer sie war, doch gar nicht laut ausgesprochen?!
»Das brauchst du auch nicht«, sagte der Schatten. Wieder dieses böse leise Lachen. »Wirklich, du solltest dich ein wenig zusammenreißen, Amazone. Ich kenne Männer und Frauen, die weit Schlimmeres ertragen haben, ohne ihre Identität zu verlieren.«
Der Schatten bewegte sich, kam näher, ohne sich wirklich von der Stelle zu rühren, und etwas wie eine Hand aus Rauch und Nebel berührte die Fesseln, die ihre Handgelenke hielten. Ein scharfes Klicken ertönte und zum ersten Mal seit einhundertachtzig endlosen Tagen und Nächten waren ihre Arme frei.
Animah starrte fassungslos auf ihre Handgelenke, auf denen die stählernen Ringe braunrote Abdrücke hinterlassen hatten, dann in das nicht vorhandene Schattengesicht der Gestalt.
»Lassar«, murmelte sie. Ihre Gedanken liefen sprunghaft, eilten von Unwichtigem und Sinnlosem zu Wichtigem und Gefährlichem und wieder zurück. Der Klang des Namens, der ihr gerade im Moment wieder eingefallen war, war mit dem Empfinden von Gefahr verbunden und einer tiefen, entsetzlich tiefen Enttäuschung, mehr nicht.
»Oh, sie wird noch viel tiefer werden, wenn du erst die Wahrheit erfährst«, sagte Lassar spöttisch. Animah begriff, dass er ihre Gedanken las, so mühelos wie ein offenes Buch.
»Das ist richtig«, sagte Lassar. »Umso mehr solltest du einsehen, wie sinnlos es ist, mich belügen oder hintergehen zu wollen. Das kann niemand.« Er lachte, beugte sich vor und streckte die Hand aus, als wolle er ihr Gesicht berühren, tat es aber dann nicht. Animah hatte das Gefühl, einen eisigen Luftckhauch zu spüren, als seine Hände vor ihren Augen schwebten. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis, du kleine Närrin«, erklärte er kichernd. »Man sagt von mir, ich sei der Herr der Lügen, und das stimmt. Niemand kann mich belügen. Die einzige Waffe, die mich zu schlagen imstande wäre, ist die Wahrheit.«
Animah verstand kein Wort von dem, was Lassar sagte. Sie begriff nur, dass sie frei war, aber gleichzeitig glaubte sie zu spüren, dass sie der Gefahr nicht entronnen, sondern nur einer anderen, weitaus schlimmeren ausgesetzt war. Sie hatte damit gerechnet, zu sterben, und sie hatte Angst davor gehabt. Jetzt wünschte sie es sich fast. Es gab Dinge, die waren schlimmer als der Tod.
»Das stimmt«, sagte Lassar. »Aber du hast nichts zu befürchten. Du bist keine Gefahr mehr für mich. Komm.«
Lautlos glitt der Schatten wieder in die Höhe und ein Stück zur Seite, bis er den Blick auf die Tür freigab. Sie stand offen. Auf dem Gang dahinter war rotes Licht, unterbrochen vom massigen, schwarzen Schatten eines Mannes. Es dauerte einen Moment, bis Animah die Bedeutung der Geste begriff, und es dauerte noch länger, bis sie sie glaubte.
»Du lässt mich … frei?«, murmelte sie.
»Närrin«, sagte Lassar. »Natürlich nicht. Aber es bringt keicknen Vorteil mehr, dich zu quälen. Ich wollte wissen, wie stark du bist, und ich weiß es nun. Du bist keine Gefahr. Du warst es nie. Geh.«
Mühsam erhob sich Animah, machte einen unsicheren Schritt auf die Tür zu und ließ sich wieder auf Hände und Knie herabsinken, denn der Ausgang war so niedrig, dass sie nur hindurchkriechen konnte.
Auf der anderen Seite griffen kräftige Hände nach ihr und zogen sie in die Höhe. Ein stoppelbärtiges Gesicht tauchte vor ihr auf, hart und schmutzig, aber nicht grausam, eine Stimme sagte etwas im Tonfall einer Frage, das sie nicht verstand, dann wurde sie vorwärts gestoßen. Ihre Beine, seit sechs Monaten nicht mehr daran gewöhnt, das Gewicht ihres Körpers zu tragen, knickten ein, aber die gleichen Hände, die sie hochgezogen hatten, fingen sie nun auf. Sie versuchte sich zu wehren, ganz instinktiv, aber auch dafür fehlte ihr die Kraft. Sie war beinahe blind. Nach einem halben Jahr ewiger Nacht schien das Licht der einzelnen Fackel wie mit glühenden Nadeln in ihre Augen zu stechen.
»Bringt sie hinauf«, befahl Lassar. »Die Diener sollen sie waschen und ihr frische Kleider geben. Sie stinkt.«
Animah fragte sich, wie ein Schatten riechen konnte, aber auch dieser Gedanke entschlüpfte ihr wieder. Sie war so müde. So schwach. Sie hatte Angst. Die beiden Wächter schleiften sie zwischen sich durch den Gang, eine Treppe hinauf, deren Stufen nach ihren Füßen schlugen, dann traten sie ins Freie, in eine Welt, die weiß und kalt war und so unerträglich hell, dass sie mit einem Schmerzenslaut die Augen schloss und mit aller Macht die Lider aufeinander presste. Trotzdem ließ die Helligkeit ihre Augen tränen. Die Kälte legte sich wie ein eisiger Mantel auf ihre Haut.
Ganz schwach versuchte sie sich zu wehren, aber selbst wenn sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre, wären die beiden Männer zu stark für sie gewesen. Sie wurde über den Hof gezerrt, sah Schatten vor dem quälenden Weiß der Welt und stolckperte durch eine weitere Tür. Plötzlich fühlte sie Wärme; den Geruch von dampfendem Wasser und Seife und dann waren andere Hände da, auch sie kräftig, aber sehr viel sanfter, die sie entkleideten und bis an den Hals in warmes, seifig-weiches Wasser steckten.
Animah gab jeden Widerstand auf. Mochten sie sie töten, hinterher, sie genoss es einfach, zum ersten Male seit einer Million Jahren wieder sauber zu sein und keine Schmerzen zu fühlen.
Allmählich begannen sich ihre Augen an das Licht zu gewöhnen, das auch hier drinnen noch unangenehm hell war, sodass sie in den ersten Minuten nur Helligkeit und dunkle, sich ruckhaft hin und her bewegende Schatten wahrnahm, die nur ganz langsam zu menschlichen Gestalten wurden. Sie befand sich in einem kleinen, strohgedeckten Raum, dessen Wände rußgeschwärzt waren wie die ihres Gefängnisses. Unter der Tür stand ein Krieger mit steinernem Gesicht, und drei Frauen unterschiedlichen Alters waren mit nichts anderem beckschäftigt als sie zu säubern und ihre Wunden zu salben und zu verbinden, was zum Teil sehr schmerzhaft war. Animah ließ es trotzdem widerstandslos geschehen, denn im gleichen Maße, in dem die Wärme des Wassers in ihren Körper kroch und die Kälte vertrieb, die sechs Monate lang Zeit gehabt hatte, sich darin einzunisten, begannen ihre Gedanken besser zu funktiocknieren. Erinnerungen, die sie längst verloren geglaubt hatte, tauchten aus dem Sumpf von Leid und Schmerzen auf, Gesichter, zu denen sich nach und nach Namen gesellten, dann Geschichten. Ihr Denken arbeitete noch lange nicht mit der gewohnten Schärfe und Klarheit und der allergrößte Teil ihres Wissens war ihr noch immer entzogen, vielleicht für immer verloren, aber sie war wenigstens kein Stück Fleisch mehr, das sich willenlos herumstoßen ließ und sogar dankbar dafür war. Eine widerliche Szene fiel ihr ein, drei oder vier Monate zurück, während der ersten Zeit ihrer Gefangenschaft, als sie noch so etwas wie Lebenswillen gehabt hatte: Eine Ratte hatte sich in ihren Kerker verirrt und versucht ihren Fuß anzufressen. Sie hatte sie erschlagen und roh gegessen. Ihr wurde übel. Sonderbar, dass sich gerade das so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte.