4
Sie hatte erwartet zu Lassar gebracht zu werden, aber sie sah den Herrn der Schatten an diesem Tage nicht, auch nicht am darauf folgenden und dem danach. Die beiden Krieger brachten sie in ein neues Gefängnis – größer und heller und weitaus menschenwürdiger ausgestattet als das, in dem sie die letzten sechs Monate verbracht hatte: eine zehn auf sechs Schritte messende Kammer, in der es ein Bett gab, einen Tisch und Stühle und sogar ein Fenster, wenn auch schmal und mit fingerdicken Eisenstäben, sodass jeder Gedanke an Flucht von vornherein sinnlos wurde. Auch das Essen war besser – keine Abfälle mehr, sondern frisches, süßes Brot und ein leichter Wein, bei jeder zweiten Mahlzeit sogar ein Stück Fleisch oder Fisch, sodass ihre Kräfte allmählich zurückkehrten.
Und im gleichen Maße, in dem sich ihr Körper erholte, begann sich auch ihr Geist zu regenerieren. Es war, als erwache sie aus einem tiefen, sechs Monate anhaltenden Schlaf, sehr langsam, aber unaufhaltsam.
Am dritten Tag begann sie ihre Muskeln zu trainieren; sehr vorsichtig zu Anfang, denn noch immer bereitete ihr jede Beckwegung Mühe und Schmerzen und jede größere Anstrengung endete mit Übelkeit. Aber Animah machte weiter. Nach einer Woche fühlte sie sich kräftig genug, ernsthaft über die Mögcklichkeit einer Flucht nachzudenken.
Sie wartete.
5
»Du hast Recht«, pfiff Guarr. »Es sind Flöße.« Er rutschte unruhig im Sattel hin und her, wischte sich ein wenig Pulverckschnee aus dem Gesicht und blickte abwechselnd Cavin und das Dutzend großer, plump erscheinender Konstruktionen an, die eine viertel Meile unter ihnen auf dem zugefrorenen Fluss standen; rechteckige hölzerne Gebilde, jedes einzelne groß genug, fünfzig Männer oder zwei Dutzend Berittener aufzucknehmen, und mit einer roh gefertigten Brustwehr an drei Seickten.
»Dann war Sarraths Information richtig.« Gwenderon gab sich keine Mühe, den Zorn aus seiner Stimme zu vertreiben. »Sie bereiten einen Angriff vor. Sobald das Eis aufbricht …«
»Unsinn«, unterbrach ihn Cavin. »Lassar ist kein Narr, Gwenderon. Er muss wissen, dass wir seine Vorbereitungen beobachten. Eine Gefahr, die man kennt, ist nur noch halb so groß.« Einen Moment lang blickte er noch auf den Fluss hinunter, dann schwang er sich aus dem Sattel, ging ein paar Schritte weit in den Wald hinein und stieß einen kurzen, schrillen Pfiff aus. Eine in graue und braune Pelze gehüllte Gestalt trat aus dem Schatten eines Busches und blickte ihn fragend an.
»Ist der Späher zurück?«, fragte Cavin.
Der Raett verneinte. »Der Weg ist weit, Herr. Und überall sind Wachen aufgestellt. Es sind viele.«
»Wozu Späher?«, fragte Gwenderon aufgebracht. »Ein paar wohl gezielte Brandpfeile, und der Spuk hat ein Ende.«
Cavin zog es vor, gar nicht darauf zu antworten. Gwenderon wusste so gut wie er, dass ein Angriff auf die Krieger dort unten am Fluss nicht infrage kam. Selbst von hier aus konnten sie sehen, dass es an die tausend Männer sein mussten, die ihr Lager rechts und links des vereisten Flusses aufgeschlagen hatten, und wie viele sich noch im undurchdringlichen Dickicht des Waldes verbergen mochten, wagte Cavin nicht einmal zu schätzen. Sie dagegen waren nicht einmal fünfzig; Guarrs Raetts bereits mitgerechnet. Ohne Gwenderon auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er zurück zum Waldrand und spähte aus zusammengekniffenen Augen zum Fluss hinab. Es hatte die ganze Nacht über geschneit und der Wald war sehr still. Nur dann und wann drang ein Knacken an sein Ohr, manchmal, wenn der Wind sich drehte, ein schriller Ruf aus dem Heerlager unter ihnen oder das helle Klingen von Hämmern. Der Fluss war auf eine halbe Meile bedeckt von rechteckigen hässcklichen Flecken. Trotzdem arbeiteten die Soldaten weiter. Mehr Flöße entstanden, bis hin zur Biegung und wahrscheinlich noch darüber hinaus. Cavin überlegte. Selbst wenn sich das Wetter schlagartig änderte, würde es sicher noch zwei Wochen dauern, bis der Fluss eisfrei war. Wenn Lassars Männer in diesem Tempo weiterarbeiteten, würden an die hundert Flöße bereitckstehen, bis es so weit war. Genug, Lassars gesamtes Heer aufckzunehmen. Die Folgerung aus diesem Gedanken war so einfach, dass er sich schlicht weigerte sie anzuerkennen. So dumm konnte Lassar nicht sein.
»Wir müssen etwas tun, Cavin«, drängte Gwenderon.
»Er hat Recht, Herr«, stimmte Karelian zu. Diesmal sah Cavin verärgert auf. Gwenderons Zorn und Ungeduld verstand er, er hatte nichts anderes erwartet. Dass Karelian dem Waffenckmeister beipflichtete und ihm somit in den Rücken fiel, ärgerte ihn. Zornig drehte er sich herum und ging auf den Waldläufer zu, der wie er abgesessen war und aus vor Kälte geröteten Augen zum Fluss hinuntersah.
»Schaut dort hinüber«, fuhr Karelian fort, ehe Cavin Gelegenheit fand, etwas zu sagen. »Sie zerstören den Wald.«
Cavin musste nicht erst in die Richtung blicken, in die Karelians Arm wies. Er hatte wie alle die riesige Wunde gesehen, die Lassars Männer in den Wald geschlagen hatten: ein Rechtckeck von tausend auf tausend Schatten, in dem nur noch abgeschlagene Stümpfe standen. Selbst das Unterholz war herausgerissen und verbrannt worden, damit es die Männer nicht bei ihrer Arbeit behinderte. Und die Bresche im Wald wuchs.
»Ein paar Bäume«, sagte er ausweichend. »Es ist nicht so –«
»Ein paar Bäume?« Karelian fuhr herum. Seine Augen flammten vor Zorn. »Diese paar Bäume«, sagte er zornig, »sind der Grund, aus dem Euer Vater starb, mein König. Das ist genau das, was Lassar wollte und was Euer Vater und Gwenderon ihm verweigerten. Der Grund, aus dem er all Eure Krieger erschlagen und Hochwalden verbrennen ließ! Und Ihr seht zu.«
»Ich kann ja hinuntergehen und ihnen sagen, dass sie aufhören sollen«, fauchte Cavin wütend. Aber sein Zorn prallte an Karelian ab, und als er sich herumdrehte und zu Gwenderon und Guarr aufsah, erkannte er in ihren Blicken die gleiche Entckschlossenheit wie bei Karelian. War er denn der Einzige, der einen klaren Verstand behalten hatte?
»Verdammt, was sollen wir tun?«, fragte er wütend. »Ein Angriff auf diese Männer wäre doch vollkommen sinnlos. Haltet ihr sie für so dumm nicht damit zu rechnen? Wahrscheinlich warten sie nur auf uns!«
»Nicht wahrscheinlich«, sagte Guarr. »Bestimmt. Trotzdem sollten wir etwas tun.«
Cavin funkelte den Raett-Führer mit kaum mehr verhohlener Wut an. Guarr hockte wie ein verkrüppelter brauner Schatten auf dem Rücken seines Pferdes, durch seine Verletzungen beckhindert und noch unbeholfener, als es bei den Raetts ohnehin normal war. Sie hatten ihn im Sattel festbinden müssen, damit er überhaupt Halt fand. Trotzdem spürte er die Entschlossenheit, die den Riesennager erfüllte. Mit einem Male begriff er, dass er auf verlorenem Posten stand. Er hatte Gwenderon und die beiden anderen hierher gebracht, weil er gehofft hatte, allein der Anblick von Lassars gewaltiger Kriegsmaschinerie würde ihnen jegliche Lust auf einen Angriff nehmen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er verstand jetzt, dass es von Anfang an beschlossene Sache gewesen war. »Und was?«, fragte er. Aber der scharfe Ton in seinen Worten war jetzt nur noch Trotz.
»Wir verbrennen die Flöße«, sagte Gwenderon.
»Und dann?« Cavin schnaubte. »Selbst wenn sie uns dabei nicht alle umbringen, werden sie einfach neue bauen.«
»Die verbrennen wir wieder«, antwortete Gwenderon ungeduldig. »Die Zeit arbeitet für uns, mein König.« Er wies mit einer zornigen Kopfbewegung auf den Fluss und die rechteckigen schwarzen Pockennarben auf seinem Eis. »Was Ihr dort seht, sind nicht die Vorbereitungen für einen Angriff, Cavin. Lassar flieht. Der Fluss führt zur Küste, und sobald er eisfrei ist, braucht er wenige Tage, sein gesamtes Heer in Sicherheit zu bringen.«