Und vielleicht wäre das das Beste, dachte Cavin. Er bestritt nicht Gwenderons Behauptung – es war die einzige Erklärung für alles, was in den letzten Wochen geschehen war. Trotz der schier unüberwindlichen Barriere, die der Winter in den Bergen errichtet hatte, waren Nachrichten in den Schwarzeichenckwald gedrungen, die die Behauptung des desertierten Kriegers zu beweisen schienen. Lassars Reich wankte. Noch hielt der Winter mit seinem Eis und seiner Kälte die Grundfesten seines Imperiums aus Angst und Terror zusammen, aber sobald der Frühling kam, würde nicht nur eine Rebellion, sondern ein Sturm losbrechen, der sein Reich davonspülte. Es war kein Zufall, dass seine Truppen hierher kamen, in die einzige Richtung, in die sie noch fliehen konnten. Lassar war kein Narr. Er musste wissen, dass die Hälfte seiner Männer erfror oder vor Erschöpfung starb, wenn sie versuchten die Berge im Winter zu überqueren. Wenn er es in Kauf nahm, dann hatte er seine Gründe dafür.
Ja, dachte er noch einmal, und eine Spur von Trauer, die er selbst nicht recht verstand, mischte sich in seine Gedanken. Lassars Reich würde untergehen, so oder so. Aber er war sehr sicher, dass Lassar, wenn es schon sein musste, mit einem Paukenschlag abtrat, gewaltig und böse, so wie er gelebt und geherrscht hatte. Sie konnten sie aufhalten. Selbst sie, die so wecknige waren, hatten die Macht, sein gewaltiges Heer zu bannen, bis die Verfolger da waren und es vernichteten. Aber das Schlachtfeld, auf dem dies geschah, würde der Schwarzeichenwald sein.
Dann dachte er an seine Begegnung mit Faroan und das, was der Magier gesagt hatte. Er hatte keine Hilfe zu erwarten; weckder von den Lebenden noch von den Toten.
Cavin seufzte. »Gut«, murmelte er resignierend. »Dann schickt einen Mann zurück zur Megidda. Er soll –«
»Nein«, unterbrach ihn Guarr. »Keinen Mann.«
Cavin sah verwirrt auf.
»Wir sind genug«, behauptete Guarr.
»Wir sind fünfzig gegen mehr als tausend!«, begehrte Cavin auf.
Guarr begann auf Raett-Art zu lachen, ein Laut, der Cavin einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Wir sind genug«, behauptete er. »Der Wald wird tun, was wir nicht können.«
»Und … wie?«, fragte Cavin zögernd. Auch Gwenderon und Karelian blickten das Raett-Männchen verwirrt an. Aber Guarr antwortete nicht, sondern drehte sich nur schwerfällig im Sattel herum, hob den Kopf und stieß einen schrillen, an- und abschwellenden Pfiff aus, wie ihn Cavin noch nie zuvor gehört hatte.
Es dauerte lange, bis eine Reaktion auf diesen Laut erfolgte. Irgendwo, verborgen in den Tiefen des Waldes, begann es zu knacken und zu rascheln. Ein Schatten tauchte zwischen den Büschen auf und verschwand wieder, dann noch einer und noch einer und noch einer, bis der Boden schwarz war und der Schnee unter dem Trippeln unzähliger kleiner Pfoten zu knickstern begann.
Guarr fuhr fort diese sonderbaren Pfiffe auszustoßen, und obwohl Cavin ganz genau wusste, dass es unmöglich war, war er gleichzeitig sicher, dass die Armee aus Ratten und Mäusen jeden einzelnen dieser Laute verstand. Schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es Cavin vorkam, verschwanden die Tiere wieckder; so schnell und unheimlich, wie sie gekommen waren.
»Was … was hast du getan?«, murmelte er. In seiner Stimme war Angst.
Guarr lachte pfeifend. »Warte ab, Mensch«, sagte er. »Heute Nacht, wenn der Schnee fällt, greifen wir an.«
Und ganz plötzlich, zum ersten Male, seit er Guarr kennen gelernt hatte, hatte Cavin Angst vor ihm. Panische Angst.
6
Von der zugefrorenen Oberfläche des Flusses stieg ein eisiger Hauch zu ihnen hoch, und jetzt, als sie den Flößen ganz nahe waren, konnte Cavin die gewaltigen eisernen Kufen erkennen, die sich unter den Gebilden verbargen; riesigen Schlittschuhen gleich und immer ein Dutzend nebeneinander, sodass sie trotz des ungeheuerlichen Gewichtes das Eis nicht zerschneiden würden. Vorne, an den Schmalseiten der Flöße, waren große eiserne Ringe angebracht worden, durch die später Seile oder Ketten gezogen werden würden. Nur wenige Pferde oder Ochsen mussten ausreichen, auf diese Weise Lassars gesamte Armee durch den Wald zu transportieren; zehnmal schneller, als sich ein Mann zu Fuß oder auch zu Pferde fortzubewegen vermochte.
Ein Gefühl eisiger Wut hatte von Cavin Besitz ergriffen; aber es war eine Wut, in der auch eine gehörige Portion Hilflosigkeit war, denn der Anblick zeigte ihm nicht nur Lassars ganze Verschlagenheit, sondern auch ihre eigene Schwäche. Die Flöckße waren größer, als es von oben den Anschein gehabt hatte – eine einzige dieser auf Kufen gleitenden Festungen konnte mehr Männer tragen, als ihre gesamte Rebellenarmee an Mitgliedern zählte.
»So also hat er sich die Sache gedacht«, murmelte Gwenderon wütend. »Mit diesen Dingern ist er in wenigen Tagen an der Küste.«
»Ja«, stimmte Cavin zu. »Und wahrscheinlich wartet dort schon eine Flotte auf ihn. Wenn die Armeen der Nordländer über die Berge kommen, ist Lassar bereits verschwunden.«
»Oder auf dem Wege zurück«, fügte Gwenderon hinzu. In seiner Stimme schwang ein Ton widerwilliger Anerkennung mit. »Dieser Teufel – er wird denen in den Rücken fallen, die ihm in den Rücken fallen wollten. Der Schwarzeichenwald wird zur Falle – aber nicht für ihn.« Er schnaubte. »Wir werden es verhindern.« Wie um seine Worte zu bestätigen, griff Gwenderon in den Köcher auf seinem Rücken, nahm einen der mit Pech bestrichenen Pfeile hervor und legte ihn auf den Bogen, ohne jedoch die Sehne zu spannen.
Cavin verfolgte seine und Karelians Vorbereitungen mit gemischten Gefühlen. Er hatte nicht mehr widersprochen, obgleich sich alles in ihm gegen die Vorstellung sträubte, dieses gewaltige Heer anzugreifen, das auf dem Fluss und beiderseits davon lagerte. Guarrs Späher hatten ihnen einen Weg zum Flussufer hinab gezeigt, der praktisch unter den Nasen der Wächter entlangführte, und tatsächlich hatten sie das Flussufer unbehelligt erreicht. Aber vielleicht war es gerade das, was Cavins Misstrauen eher schürte – es war alles ein wenig zu glatt gegangen für seinen Geschmack. Rechts und links von ihnen, zum Teil weniger als eine Pfeilschussweite entfernt, wimmelte es von Lassars Kriegern, und wenn bisher auch niemand Notiz von ihnen genommen hatte, so konnte sich das rasch ändern. Sehr rasch sogar. Irgendwie erschien Cavin die Vorstellung, dass er und Gwenderon und Karelian und das knappe Dutzend Männer in ihrer Begleitung mit ein paar Pfeicklen diese gewaltige Kriegsflotte in Brand schießen sollten, schlichtweg lächerlich. Aber es war zu spät, jetzt noch zurückzuwollen.
Gwenderon berührte ihn am Arm und deutete zum anderen Ufer hinüber. Die Wunde, die Lassars Krieger in den Wald geschlagen hatten, war auch von hier aus deutlich zu erkennen. Die Männer hatten Fackeln entzündet, nachdem die Sonne untergegangen war, und das schier unablässige Hämmern und Sägen wurde nur unterbrochen, wenn einer der Baumriesen krachend niederstürzte. Selbst in Cavins Ohren, der mit diesem Wald nicht halb so verbunden war wie Gwenderon oder gar Karelian, klang es jedes Mal wie ein Schmerzensschrei.
Aber das war es nicht, worauf ihn Gwenderon hatte aufmerkcksam machen wollen. Etwas im Rhythmus der hin und her huckschenden Fackeln und Schatten auf dem jenseitigen Ufer hatte sich verändert. Es war … unruhiger geworden, hektischer. Und dann, ganz plötzlich, erlosch ein fingerlanger Ausschnitt in der Kette von Lichtern, die den gewaltsam geschaffenen Waldrand markierten. Ein einzelner, lang anhaltender Schrei drang zu ihnen herüber.
Gwenderon spannte seinen Bogen und hob den Feuerstein, aber Karelian legte ihm rasch die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, flüsterte er. »Warte.«
Ein zweiter Schrei erscholl, dann noch einer und noch einer, und mit einem Male erstickten die Arbeitsgeräusche unter einem Chor gellender Schreie, die Kette aus Lichtern zerriss vollends und ein tiefes, grollendes Rumpeln und Donnern ließ den Boden erbeben. Das Erdreich, durch das Wühlen und Graben von Millionen scharfer Krallen und Zähne seines Haltes beraubt, kam ins Rutschen. Aus der Entfernung betrachtet sah es harmlos und langsam aus, aber es war weder das eine noch das andere: Eis und Schnee verschwanden unter einer Lawine aus Geröll und Schlamm, braunen Zungen aus kochendem Erdreich, die sich dem Fluss entgegenstreckten und sich immer schneller und schneller vereinigten, Geröll und losgerissene Baumwurzeln mit sich reißend und die Männer schlichtweg zermalmend, die nicht rasch genug beiseite springen konnten. Dann, in weniger als einer Minute, nachdem der erste Schrei erklungen war, gab es nichts mehr, wohin die Krieger hätten ausweichen können; mit einer schwerfällig zuckenden Bewegung neigte sich der gesamte Hang dem Fluss entgegen, hob und senkte sich wie die Flanke eines träge erwachenden Drachen, und eine gewaltige Lawine aus Schlamm und Steinen donnerte die Böschung herab, traf mit einem urgewaltigen Dröhnen auf das Eis und zermalmte es.