Animah verspürte noch immer keine Angst; nicht einmal Enttäuschung, dass alles so enden sollte. Im Nachhinein kam es ihr im Gegenteil eher wie ein Wunder vor, dass sie überhaupt so weit gekommen war. Sie hatte Hochwalden verlassen, ohne dass Alarm geschlagen worden wäre, und wenn sie ihren Vorcksprung bedachte, so musste fast eine Stunde vergangen sein, bevor ihre Flucht auch nur entdeckt worden war. Vielleicht war es nicht einmal Glück, dachte sie bitter. Vielleicht war dies alles nur Teil eines grausamen Spieles, das Lassar mit ihr spielte, denn sie war praktisch durch sein Heerlager hindurchgelaufen, ohne dass nur einer der zigtausend Männer Notiz von ihr genommen hätte. Vielleicht hatte er alles ganz genau so geplant. Vielleicht würden seine Häscher sie jagen, bis sie Gwenderons Lager fast erreicht hatte, um sie dann zu töten.
Aber sie wusste ja noch nicht einmal, wo es war. Sie wusste ja nicht einmal, ob es noch so etwas wie ein Lager gab oder ob ihre Rebellion nicht schon längst nur noch aus ihr bestand und der Schwarzeichenwald ein Teil von Lassars finsterem Reich geworden war, ob …
Mit schmerzhafter Wucht kam Animah zu Bewusstsein, wie wenig sie im Grunde wusste. Die letzten sechs Monate existierten nicht für sie. Das letzte Mal, dass sie Gwenderon und Karelian gesehen hatte, war während der Schlacht im Wald gewecksen, bei der sie fast getötet worden war. Und wer sagte ihr, dass Lassars Behauptung keine Lüge war und Karelian und Cavin am Leben und in Freiheit waren? Vielleicht war sie die letzte der Rebellen, das letzte Opfer seines grausamen Spieles, das er zum bloßen Zeitvertreib zu Tode hetzen ließ.
Nicht sehr weit hinter ihr ertönte ein heiseres Bellen, gefolgt vom scharfen Knall einer Peitsche und einem schmerzerfüllten Jaulen. Der Laut riss Animah wieder in die Wirklichkeit zurück. Gehetzt sah sie sich um, erkannte einen verschwommecknen Schatten gegen den Nachthimmel und lief schneller. Ihr Atem ging keuchend und in schmerzhaften, kurzen Stößen. Der Schnee, über den sie rannte, brannte wie Feuer an ihren bloßen Füßen. Ein dünner, aber unbarmherzig heftiger werdender Schmerz wühlte in ihrer Seite und sie spürte, wie ihre Kräfte jetzt rapide nachließen. Sie würde die Jagd nicht mehr bis zum Sonnenaufgang durchhalten.
Nicht einmal mehr zehn Minuten.
Schwer atmend blieb Animah stehen, lehnte sich gegen einen Baum und ergriff das Schwert in ihrer Rechten fester. Die Waffe schien eine Tonne zu wiegen und der Gedanke, sie zu heben und damit zu kämpfen oder gar einen Schwerthieb abzuwehren, war einfach lächerlich. Aber der Gedanke, kampflos zu sterben, noch mehr.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn der Reiter hatte sie entdeckt und drängte sein Pferd mit einem schrillen Ausruf in ihre Richtung. Animah sah das Tier wie ein Alptraumungeheuer auf sich zuspringen, ein gepanzerter Koloss, gigantisch und schwarz und mit flammenden roten Augen, flankiert von zwei kleineren, aber noch wilderen Bestien, deren gebleckte Fänge wie elfenbeinfarbene Dolche im Mondlicht schimmerten. Ungeschickt hob sie das Schwert, wich einen Schritt zur Seite und fiel zu Boden, als einer der Hunde sie ansprang. Reißzähne, so lang wie ihr kleiner Finger und spitz wie Messer, schnappten nach ihrer Kehle, verfehlten sie und gruben sich tief in ihre Schulter. Animah schrie vor Schmerz, bäumte sich auf und schleuderte den Hund mit verzweifelter Kraft von sich. Sofort war das Tier wieder auf den Beinen, fuhr herum und griff ein zweites Mal an. Animah stach mit dem Schwert in seine Richtung, verfehlte es und krümmte sich vor Schmerz, als sich die Zähne des schwarzen Ungeheuers dieses Mal in ihren Unterarm gruben. Blindlings hieb sie mit dem Schwertknauf zu, spürte, wie sie traf, und sank wimmernd zurück, als sich die entsetzlichen Kiefer öffneten. Ihr linker Arm war ein einziger pulsierender Schmerz. Wald und Himmel begannen sich vor ihren Augen zu drehen. Sie sah nur noch wie durch einen Vorhang aus flirrenden roten Nebeln. In ihrem Mund war der Geschmack von Erbrochenem.
Der Reiter stieß ein böses Lachen aus, sprang aus dem Sattel und trat ihr das Schwert aus der Hand. Gleichzeitig schnappten die Kiefer des Hundes nach ihrem Gesicht. Sie verfehlten es nur, weil der Mann das Tier im letzten Augenblick zurückriss.
Stöhnend wälzte sich Animah herum, presste den verwundeckten Arm an den Leib und kroch ungeschickt auf das Schwert zu. Ein riesiger Schatten erhob sich neben ihr, torkelnd und noch benommen, aber schon wieder mit gebleckten Zähnen und nach Mordlust und Tod riechend. Animahs Finger krochen auf das Schwert zu, erreichten es und schlossen sich um seinen Griff.
Der Soldat trat ihr auf die Hand; so wuchtig, dass sie hörte, wie zwei ihrer Finger brachen. Gleichzeitig schnappte etwas mit entsetzlicher Kraft nach ihrer Wade, schloss sich darum und riss ein Stück heraus. Animah spürte den Schmerz kaum noch. Sie begriff nur, dass Lassar nicht den Befehl gegeben hatte, sie lebend zu fangen; und sie war sehr dankbar dafür.
Aber der Tod, auf den sie wartete, kam nicht. Irgendetwas geschah, was sie nicht mehr richtig wahrnahm, denn ihre Sinne begannen bereits zu schwinden, aber etwas im Heulen der Hunde war mit einem Male anders, und der grässliche Schmerz in ihrem Bein und ihren Armen blieb zwar, wurde aber nicht von anderen Bissen abgelöst. Irgendwo, Meilen entfernt, wie es ihr schien, ertönte ein gellender, panikerfüllter Schrei, und plötzlich klang das Wimmern der Hunde schrill und war voller Todesangst.
Stöhnend hob Animah den Kopf, zwang ihre Lider, sich noch einmal zu heben, und sah Schatten über sich, zerfaserte Gestalten, die einen irren Veitstanz aufführten. Plötzlich fiel die größckte von ihnen zu Boden, zuckte noch ein paar Mal und lag dann still, dann brach einer der Hunde über ihren Beinen zusammen; warmes Blut, das nicht ihres war, lief über ihren Rücken, und wie in einer entsetzlichen Vision sah sie den zweiten Bluthund vor sich, wie irr nach allen Seiten beißend, heulend vor Wut und Schmerz. Etwas Kleines, Braunes und Zappelndes hing an seiner Kehle, und andere zappelnde kleine Dinge hatten sich in seine Flanken verbissen, zerrten an seinem Leib, seinen Beinen und seinem Schwanz, versuchten an seinem hässlichen Schädel hinaufzuklettern und bissen mit mörderischen Zähnen nach seinen Augen.
Das Letzte, was Animah bewusst wahrnahm, war ein riesiger struppiger Umriss, der nahezu lautlos aus dem Unterholz trat. Irgendwie schien er den Schatten zu ähneln, die den Hund niedergerungen hatten, nur dass er viel größer war, größer als ein Mensch, aber mit dem Gesicht einer Ratte.
Dann nichts mehr.
12
»Niemals!« Gwenderon ballte die Faust, beugte sich zornig vor und schlug sich wuchtig in die geöffnete Linke. Sein Gesicht flammte vor Erregung. »Niemals, Cavin«, wiederholte er. »Es wäre Wahnsinn, auf dieses Angebot einzugehen. Ihr … Ihr werdet ihm doch nicht ein Wort glauben! Nicht nach allem, was geschehen ist.«
Cavin lächelte traurig, beugte sich vor und angelte mit seicknem Dolch eine geröstete Kartoffel aus dem Feuer ohne zu antworten. Er fühlte sich müde, obgleich sie seit Stunden hier saßen und nichts anderes getan hatten als reden. Seine Augen brannten, sein Gaumen war trocken vom vielen Sprechen und er mochte nicht mehr reden, ja, nicht einmal mehr denken. Alles, was zu sagen war, war gesagt worden, mehr als einmal. Das Gespräch hatte vor vier Stunden begonnen sich im Kreise zu drehen, und es sah nicht so aus, als wäre auch nur einer von ihnen bereit diesen Kreis zu durchbrechen.
Sie waren zu viert: er selbst, Gwenderon, der auf der anderen Seite des Feuers Platz genommen hatte, dazu Karelian, dessen Part bei dieser Beratung wie üblich fast nur im Zuhören und einem gelegentlichen knappen Kopfnicken oder in einem wickderwillig eingestreuten Wort bestand, und als Letzter Guarr. Er hatte allerdings – obwohl er für einen Raett außergewöhnlich schwatzhaft war – kaum mehr gesprochen als Karelian. Dies war eine Sache zwischen Gwenderon und ihm, das hatte er im Grunde schon gewusst, bevor das Gespräch begonnen hatte. Und wie immer es ausging, dachte Cavin betrübt, er würde die Verantwortung dafür zu tragen haben.