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Doc Roper legte die paar Geräte, die er zur Untersuchung verwendet hatte, in seine Tasche zurück. Der Junge saß immer noch auf dem Sessel von Mr. Jackson. Sein Gesicht war vom Blut gereinigt worden, und sein Ohr war bandagiert. Rechts hatte er von seiner Auseinandersetzung mit dem Signalpfosten einen anständigen Bluterguss, aber seine Augen waren klar und wach. In dem kleinen Kühlschrank hatte der Doc eine Flasche Ginger Ale gefunden, die der Junge gerade gierig leerte.

»Sitzen bleiben, junger Mann«, sagte Roper. Er klappte seine Tasche zu und gesellte sich zu Tim, der in der Tür zum Büro stehen geblieben war.

»Wie geht es ihm?«, fragte Tim mit leiser Stimme.

»Er ist dehydriert, und er ist hungrig, weil er ’ne ganze Weile nichts gegessen hat, aber sonst ist er in gutem Zustand, denke ich. Kinder in seinem Alter erholen sich normalerweise schnell. Er sagt, er ist zwölf, er sagt, dass er Nick Wilholm heißt, und er sagt, er ist da in den Zug gestiegen, wo der losgefahren ist, hoch oben im Norden von Maine. Als ich ihn gefragt hab, was er da zu suchen hatte, hat er gemeint, das könnte er mir nicht sagen. An die Adresse, wo er wohnt, kann er sich angeblich nicht erinnern. Das ist plausibel, ein harter Schlag an den Kopf kann eine vorübergehende Desorientiertheit hervorrufen und das Gedächtnis stören, aber ich bin nicht von gestern und kann Amnesie von Verschlossenheit unterscheiden, vor allem bei einem Kind. Er verbirgt etwas. Vielleicht sogar eine ganze Menge.«

»Okay.«

»Wollen Sie meinen Rat hören? Versprechen Sie ihm ’ne anständige Mahlzeit bei Bev’s, dann erzählt er Ihnen die ganze Geschichte.«

»Danke, Doc. Die Rechnung können Sie an mich schicken.«

Roper wedelte mit der Hand. »Wenn Sie mich zu ’ner anständigen Mahlzeit irgendwo einladen, wo es ein bisschen nobler zugeht als bei Bev’s, sind wir quitt. Und wenn Sie seine Geschichte erfahren haben, will ich sie hören.«

Als er fort war, zog Tim die Tür zu, damit sie ungestört waren, und holte sein Handy aus der Tasche. Er rief Bill Wicklow an, den Deputy, der ihn nach Weihnachten als Nachtklopfer ablösen sollte. Der Junge beobachtete ihn aufmerksam, während er die Flasche kaltes Ginger Ale leerte.

»Bill? Hier spricht Tim. Ja, alles in Ordnung. Hab bloß überlegt, ob du heute Nacht mal ausprobieren könntest, was dich in meinem Job erwartet. Normalerweise ist jetzt nämlich meine Schlafenszeit, aber am Bahnhof gibt es ein Problem.« Er lauschte. »Super. Dann schulde ich dir was. Ich leg dir die Kontrolluhr ins Büro. Denk dran, dass du sie aufziehen musst. Und danke!«

Er legte auf und betrachtete den Jungen. Der Bluterguss im Gesicht würde erst aufblühen und dann in ein oder zwei Wochen verschwinden. Von dem Ausdruck in seinen Augen war das so früh wohl eher nicht zu erwarten. »Fühlst du dich besser? Gehen die Kopfschmerzen allmählich weg?«

»Ja, Sir.«

»Vergiss das mit dem Sir, du kannst Tim zu mir sagen. Und was sag ich zu dir? Wie ist dein richtiger Name?«

Und nach kurzem Zögern verriet Luke ihm den.

7

In dem schwach beleuchteten Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau war es kalt, weshalb Avery sofort zu zittern anfing. Er trug noch die Sachen, die er getragen hatte, als Zeke und Carlos seinen kleinen Körper bewusstlos aus dem Wassertank gezogen hatten, und er war klatschnass. Seine Zähne klapperten. Trotzdem klammerte er sich an das, was er erfahren hatte. Es war wichtig. Jetzt war alles wichtig.

»Hör auf, mit den Zähnen zu klappern«, sagte Gladys. »Das hört sich abscheulich an.« Sie schob ihn in einem Rollstuhl vor sich her, und von ihrem üblichen Lächeln sah man keine Spur. Was der kleine Scheißkerl getan hatte, war inzwischen allgemein bekannt, und wie alle Angestellten des Instituts war Gladys in Panik und würde in Panik bleiben, bis man Luke Ellis zurückgeschafft hatte und alle erleichtert aufatmen konnten.

»I-i-ich k-k-kann n-n-nichts dagegen tun«, sagte Avery. »M-m-mir ist so k-k-kalt.«

»Meinst du, das interessiert mich auch nur die Bohne?« Ihre laute Stimme hallte von den gefliesten Wänden wider. »Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du getan hast? Hast du irgendeine Vorstellung?«

Die hatte Avery durchaus. Genauer gesagt hatte er viele Vorstellungen, die teilweise von Gladys stammten (ihre Furcht war wie eine Ratte, die mitten in ihrem Kopf auf einem Rad im Kreis rannte) und teilweise ihm ganz allein gehörten.

Sobald sie die Tür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE hinter sich hatten, war es ein bisschen wärmer. Noch wärmer war es in dem schäbigen Aufenthaltsraum, wo Dr. James auf sie wartete. Der weiße Laborkittel der Ärztin war falsch zugeknöpft, ihre Haare waren zerzaust, und sie hatte ein breites, albernes Grinsen auf dem Gesicht.

Averys Zittern verlangsamte sich und hörte dann ganz auf, aber dafür kamen die farbigen Stass-Lichter wieder. Das war kein Problem, weil er sie jederzeit verschwinden lassen konnte. Zeke hatte ihn im Wassertank um ein Haar umgebracht; kurz bevor Avery bewusstlos geworden war, hatte er sogar gedacht, er wäre wirklich tot, aber außerdem hatte der Tank etwas mit ihm gemacht. Er wusste, dass das schon mit ein paar anderen Kindern geschehen war, aber bei ihm war es offenbar stärker. Dass er jetzt zugleich TK- und TP-Fähigkeiten hatte, war noch das wenigste. Gladys hatte wegen Luke Angst vor dem, was passieren konnte, aber Avery hatte so eine Ahnung, dass er dafür sorgen konnte, dass sie vor ihm, Avery, Angst hatte, wenn er wollte.

Jetzt war allerdings nicht der richtige Zeitpunkt.

»Hallo, junger Mann!«, rief Dr. James. Sie hörte sich wie eine Politikerin in einem Wahlwerbespot an, und ihre Gedanken flogen durch die Gegend wie Papierfetzen im Sturm.

Mit der ist wirklich etwas nicht in Ordnung, dachte Avery. Wie bei einer Strahlenvergiftung, nur dass die in ihrem Gehirn anstatt in den Knochen sitzt.

»Hallo«, sagte er.

Dr. Jackson, allgemein Jeckle genannt, warf den Kopf zurück und lachte, als ob das Hallo die Pointe des lustigsten Witzes wäre, den sie je gehört hatte. »Wir haben dich nicht so bald erwartet, aber willkommen, willkommen! Einige von deinen Freunden sind schon hier!«

Das weiß ich, dachte Avery, und ich kann’s nicht erwarten, sie zu sehen. Und die werden sich freuen, mich wiederzusehen.

»Zuerst müssen wir dir aber mal die nassen Sachen ausziehen.« Jeckle warf Gladys einen vorwurfsvollen Blick zu, aber die war damit beschäftigt, sich die Arme zu kratzen, um das Kribbeln loszuwerden, das ihr über die Haut lief (oder knapp darunter). Viel Glück dabei, dachte Avery. »Ich lasse dich von Henry zu deinem Zimmer bringen. Wir haben nette, rot gekleidete Pfleger hier. Kannst du alleine gehen?«

»Ja.«

Jeckle lachte wieder mit zurückgelegtem Kopf und zuckender Kehle. Avery erhob sich aus dem Rollstuhl und warf Gladys einen langen, abschätzenden Blick zu. Sie hörte auf, sich zu kratzen, und jetzt war sie es, die zitterte. Nicht weil sie durchnässt war. Auch nicht weil ihr kalt war. Es war wegen ihm. Sie spürte ihn, und das mochte sie gar nicht.

Aber Avery mochte es. Es war irgendwie großartig.

8

Weil im Privatzimmer von Mr. Jackson kein zweiter Stuhl stand, schaffte Tim einen vom Büro herein. Er überlegte, ob er sich direkt vor den Jungen setzen sollte, aber das erinnerte ihn zu sehr an die Anordnung in einem polizeilichen Verhörraum. Deshalb schob er den Stuhl neben den Sessel, um neben dem Jungen zu sitzen wie neben einem Freund, mit dem man gerade die gemeinsame Lieblingssendung anschaute. Nur dass der Fernseher von Mr. Jackson ausgeschaltet war.

»Also, Luke«, sagte Tim. »Laut Annie wurdest du gekidnappt, aber Annie ist nicht immer… ganz im Bilde, sagen wir mal.«

»In der Hinsicht ist sie durchaus im Bilde«, sagte Luke.