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»Na gut. Wo wurdest du gekidnappt?«

»In Minneapolis. Sie haben mich betäubt. Und sie haben meine Eltern umgebracht.« Er wischte sich mit der Hand über die Augen.

»Dann haben die Kidnapper dich von Minneapolis nach Maine geschafft. Wie haben sie das getan?«

»Das weiß ich nicht, ich war bewusstlos. Wahrscheinlich mit einem Flugzeug. Ich bin wirklich aus Minneapolis. Das können Sie überprüfen, Sie müssen bloß bei meiner Schule anrufen. Das ist die Broderick-Schule für außergewöhnliche Kinder.«

»Das heißt, du bist ein ziemlich heller Junge.«

»Ja, klar«, sagte Luke ohne Stolz in der Stimme. »Ich bin ein heller Junge, aber momentan bin ich auch ein sehr hungriger Junge. Seit anderthalb Tagen hab ich außer ’nem Hamburger und einer Apfeltasche nichts zu essen gekriegt. Jedenfalls glaub ich, es sind anderthalb Tage. Ich hab jedes Zeitgefühl verloren. Die Sachen hat mir ein Mann gegeben, der Mattie heißt.«

»Sonst nichts?«

»Ein Stück Donut«, sagte Luke. »Aber das war nicht besonders groß.«

»Menschenskind, dann wollen wir dir aber schnell was zu essen besorgen.«

»Ja«, sagte Luke, um dann hinzuzufügen: »Bitte.«

Tim zog sein Handy aus der Tasche. »Wendy? Hier ist Tim. Ich frag mich, ob du mir wohl einen Gefallen tun könntest.«

9

Averys Zimmer im Hinterbau war völlig kahl und das Bett praktisch eine Pritsche. An den Wänden hingen keine Nickelodeon-Poster, und auf der Kommode standen keine Actionfiguren, mit denen er spielen konnte. Das machte Avery nichts aus. Er war erst zehn, aber jetzt musste er erwachsen sein, und Erwachsene beschäftigten sich nicht mit Spielzeugsoldaten.

Aber allein schaffe ich es nicht, dachte er.

Er erinnerte sich an Weihnachten, letztes Jahr. Es tat weh, daran zu denken, aber er tat es trotzdem. Er hatte die Lego-Burg bekommen, die er sich gewünscht hatte, aber als alle Teile ausgebreitet vor ihm lagen, wusste er nicht, wie er aus dem Durcheinander den wunderbaren Bau auf der Schachtel zustande bringen sollte mit den Türmchen und Toren und der Zugbrücke, die man hoch- und runterklappen konnte. Da war er in Tränen ausgebrochen. Worauf sich sein Vater (der jetzt tot war, da war er sich sicher) neben ihn gekniet und gesagt hatte: Wir schauen uns die Bauanleitung an und machen es gemeinsam. Einen Schritt nach dem anderen. Was sie getan hatten. Bewacht von seinen Actionfiguren, hatte die Burg auf der Kommode in seinem Zimmer gestanden, und als er im Vorderbau aufgewacht war, war sie das Einzige gewesen, was sie nicht hatten kopieren können.

Jetzt lag er mit trockenen Anziehsachen auf der Pritsche in diesem öden Zimmer und dachte daran, wie toll die Burg ausgesehen hatte, als sie fertig war. Außerdem spürte er das Summen. Hier im Hinterbau war es dauernd da. In den Zimmern war es laut, auf den Fluren lauter und am allerlautesten hinter der Cafeteria und dem Pausenraum der Pfleger, wo eine doppelt verschlossene Tür in den hinteren Teil des Hinterbaus führte. Diesen Teil bezeichneten die Pfleger oft als Rübenacker, weil die Kinder, die dort lebten (falls man das als Leben bezeichnen konnte) nur noch wie Rüben dahinvegetierten. Aber offenbar waren sie nützlich. So wie die Hülle eines Schokoriegels nützlich war, bis man sie sauber abgeleckt hatte. Dann konnte man sie wegwerfen.

Die Türen hier waren mit Schlössern versehen. Avery konzentrierte sich und versuchte, sein Schloss zu öffnen. Nicht dass er irgendwo anders hätte hingehen können als auf den Flur mit seinem blauen Teppichboden, aber es war ein interessantes Experiment. Er spürte, wie der Schließzylinder versuchte, sich zu drehen, aber ganz schaffte Avery es nicht. Ob George Iles wohl dazu in der Lage wäre, weil George schon von Anfang an stark TK-pos gewesen war? Wahrscheinlich ja, wenn man ihm ein bisschen dabei half. Wieder dachte er daran, was sein Vater gesagt hatte: Wir machen es gemeinsam. Einen Schritt nach dem anderen.

Um fünf Uhr abends ging die Tür auf, und ein rot gekleideter Pfleger streckte sein finsteres Gesicht herein. Hier trugen die Pfleger keine Namensschildchen, doch so etwas brauchte Avery gar nicht. Das hier war Jacob, bei seinen Kollegen als Jake the Snake oder kurz Schlange bekannt. Er war früher bei der Navy gewesen. Du hast versucht, zu den SEALs zu kommen, dachte Avery, aber das hast du nicht geschafft. Sie haben dich rausgeschmissen. Schätzungsweise hat es dir zu viel Spaß gemacht, anderen Leuten wehzutun.

»Abendessen«, sagte Jake the Snake. »Wenn du was willst, komm mit. Wenn nicht, sperre ich dich bis zu den Filmen wieder ein.«

»Ich will was.«

»In Ordnung. Magst du Filme, Kleiner?«

»Ja«, sagte Avery und dachte: Aber die werde ich nicht mögen. Mit diesen Filmen werden Menschen getötet.

»Dann werden sie dir gefallen«, sagte die Schlange. »Am Anfang gibt’s immer einen Zeichentrickfilm. Die Cafeteria ist da hinten links. Und hör auf rumzutrödeln.« Jake gab ihm einen saftigen Klaps auf den Hintern, um ihn anzutreiben.

In der Cafeteria – einem öden Raum, der im selben fahlen Grün getüncht war wie der Flur im Vorderbau – saßen etwa ein Dutzend Kinder und aßen etwas, was nach Rindfleischeintopf aus der Dose roch. Averys Mutter hatte das mindestens zweimal pro Woche aufgetischt, weil seine kleine Schwester es mochte. Die war wahrscheinlich auch tot. Die meisten Kinder sahen wie Zombies aus, und es gab eine Menge Geschlabber. Ein Mädchen rauchte beim Essen eine Zigarette. Avery sah, wie sie die Asche in ihren Teller klopfte, sich mit leerem Blick umsah und dann wieder daraus aß.

Avery hatte Kalisha schon unten im Tunnel gespürt, und jetzt sah er sie an einem Tisch ganz hinten sitzen. Er musste sich bezähmen, dass er nicht zu ihr lief und ihr die Arme um den Hals warf. Das hätte Aufmerksamkeit erregt, was Avery nicht wollte. Ganz im Gegenteil. Neben Sha saß Helen Simms, deren Hände schlaff links und rechts neben ihrem Teller lagen. Sie hatte den Blick an die Decke gerichtet. Ihre Haare, schrill gefärbt, als sie im Vorderbau aufgetaucht war, hingen ihr jetzt matt, verklebt und wesentlich dünner ums Gesicht. Kalisha fütterte sie oder versuchte es wenigstens.

»Komm schon, Helen, komm schon, Knuffel, auf geht’s!« Es gelang Sha, Helen einen Löffel Eintopf in den Mund zu befördern. Als ein brauner Brocken undefinierbares Fleisch die Flucht über die Unterlippe zu ergreifen versuchte, schob sie ihn mit dem Löffel zurück. Diesmal schluckte Helen, und Sha lächelte. »Brav, so ist’s gut!«

Sha, dachte Avery. He, Kalisha!

Sie blickte sich verblüfft um, sah ihn und strahlte über das ganze Gesicht.

Avester!

Ein brauner Soßenfaden rann Helen am Kinn herab. Nicky, der auf ihrer anderen Seite saß, griff nach einer Papierserviette, um ihn abzuwischen. Dann sah auch er Avery, grinste und hob den Daumen. George, der Nicky direkt gegenübersaß, drehte sich um.

»He, checkt das aus, da ist der Avester«, sagte George. »Sha dachte schon, du kommst bestimmt bald. Willkommen in unserem glücklichen Zuhause, kleiner Held!«

»Wenn du was essen willst, hol dir ’nen Teller«, sagte eine Frau mit versteinertem Gesicht, die eine rote Uniform trug. Wie Avery wusste, hieß sie Corinne und verteilte gern Ohrfeigen. Das verschaffte ihr ein gutes Gefühl. »Ich muss früh Schluss machen, weil heute Filmabend ist.«

Avery nahm sich einen Teller und löffelte sich etwas Eintopf darauf. Ja, es war tatsächlich welcher aus der Dose. Er legte eine Scheibe schwammiges Weißbrot darauf, dann trug er seine Mahlzeit zu seinen Freunden und setzte sich. Sha strahlte ihn an. Sie hatte heute schlimmes Kopfweh, aber sie strahlte trotzdem, weshalb er am liebsten zugleich gelacht und geweint hätte.

»Iss alles auf, Alter«, sagte Nicky, ohne den eigenen Rat zu befolgen; sein Teller war mehr als halb voll. Er hatte blutunterlaufene Augen und rieb sich ständig die linke Schläfe. »Ich weiß, es sieht wie Kotze aus, aber du solltest die Filme nicht mit leerem Magen sehen.«