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Haben sie Luke geschnappt, fragte Sha in Gedanken.

Nein. Die haben alle brutal Angst.

Gut. Sehr gut!

Kriegen wir vor dem Film Spritzen, die wehtun?

Heute Abend nicht, glaube ich, das ist ein ziemlich neuer, wir haben ihn erst einmal gesehen.

George betrachtete die beiden mit wissendem Blick. Er hatte alles mitgehört. Früher im Vorderbau war er nur TK gewesen, aber jetzt war er mehr. Das waren sie alle. Durch den Aufenthalt im Hinterbau wurde das, was man war, verstärkt, aber mit Avery war durch den Wassertank wesentlich mehr geschehen. Er wusste über allerhand Bescheid. Über die Tests im Vorderbau zum Beispiel. Viele waren Nebenprojekte von Dr. Hendricks, aber die Injektionen hatten einen bestimmten Zweck. Manche wirkten drosselnd, aber die hatten sie Avery nicht verabreicht. Sie hatten ihn direkt in den Wassertank gesteckt, wo er ans Tor des Todes gelangt war, wenn er es nicht gar durchschritten hatte, und deshalb konnte er die Stass-Lichter beinahe jederzeit erzeugen, wenn er wollte. Dazu brauchte er weder die Filme, noch musste er ein Teil des Gruppendenkens sein. Dieses Gruppendenken zu erzeugen war die Hauptfunktion des Hinterbaus.

Aber trotzdem war er erst zehn Jahre alt. Was ein Problem darstellte.

Während er zu essen begann, tastete er nach Helen und freute sich, dass er sie noch erreichte. Er mochte Helen. Die war nicht wie Frieda, dieses Miststück. Auch ohne Friedas Gedanken zu lesen, wusste er, dass sie ihn hinterhältig dazu gebracht hatte, ihr alles zu verraten, um ihn dann zu verpfeifen – wer sonst hätte das wohl getan haben können?

Helen?

Nein. Sprich nicht mit mir, Avery. Ich muss mich…

Der Rest ging verloren, aber Avery glaubte, verstanden zu haben. Sie musste sich verstecken. In ihrem Kopf war ein mit Schmerzen gefüllter Schwamm, und sie versteckte sich davor, so gut sie konnte. Eigentlich war es vernünftig, sich vor Schmerzen zu verstecken. Das Problem war nur, dass der Schwamm immer weiter anschwoll. Und zwar so weit, bis sie sich nirgendwo mehr verstecken konnte, und dann würde er sie an ihre Schädelknochen quetschen wie eine Fliege an die Wand. Worauf sie erledigt sein würde. Als Helen zumindest.

Avery griff in ihre Gedanken hinein. Das war leichter, als das Schloss seiner Zimmertür zu öffnen, denn während er immer schon stark TP gewesen war, war TK neu für ihn. Er war noch unbeholfen und musste vorsichtig sein. Heilen konnte er Helen nicht, aber er glaubte, es ihr erleichtern und sie ein bisschen abschirmen zu können. Das würde nicht nur gut für Helen sein, sondern für sie alle… weil sie jede Hilfe brauchten, die sie bekommen konnten.

Tief im Kopf von Helen fand er den Kopfwehschwamm und sagte ihm, er solle aufhören, sich auszubreiten. Er solle verschwinden. Das wollte der Schwamm nicht. Avery drückte dagegen. Vor ihm tauchten die farbigen Lichter auf, wirbelten langsam umher wie Sahne, die in einer Tasse Kaffee verrührt wurde. Avery drückte stärker. Der Schwamm war formbar, aber trotzdem fest.

Kalisha. Hilf mir.

Wobei? Was tust du gerade?

Er teilte es ihr mit, worauf sie sich zu ihm gesellte, zuerst noch zaghaft. Dann drückten sie gemeinsam. Der Kopfwehschwamm gab ein bisschen nach.

George, sendete Avery. Nicky. Helft uns!

Nicky war dazu in der Lage, wenn auch nur ein bisschen. George reagierte zuerst verwirrt und machte dann mit, zog sich jedoch gleich wieder heraus. »Ich kann nicht«, flüsterte er. »Es ist zu dunkel.«

Mach dir nichts aus der Dunkelheit! Das war Sha. Ich glaube, wir können Helen helfen!

George machte wieder mit. Zwar zögernd, und er war auch keine große Hilfe, aber immerhin war er dabei.

Es ist bloß ein Schwamm, erklärte Avery den anderen. Seinen Teller mit Eintopf sah er nicht mehr, nur noch die im Takt seines Herzschlags wirbelnden Stass-Lichter. Er kann euch nicht wehtun. Drückt dagegen! Alle zusammen!

Sie versuchten es, und tatsächlich geschah etwas. Helen wandte den Blick von der Decke ab und richtete ihn auf Avery.

»Ach, seht mal, wer da gekommen ist«, sagte sie mit rostiger Stimme. »Meine Kopfschmerzen sind auch weniger geworden. Gott sei Dank.« Sie fing an, selbst zu essen.

»Heilige Scheiße«, sagte George. »Das waren tatsächlich wir!«

Nicky grinste und hob die Hand. »Klatsch ab, Avery!«

Das tat Avery, aber sein gutes Gefühl verschwand zusammen mit den Lichtern. Helens Kopfweh würde zurückkehren, und jedes Mal wenn sie einen Film sah, würde es schlimmer werden. Das von Sha ebenso und das von Nicky. Sein eigenes auch. Irgendwann würden sie alle sich dem Summen anschließen, das vom Rübenacker kam.

Aber vielleicht… wenn sie sich alle zusammentaten in ihrem eigenen Gruppendenken… und wenn es eine Möglichkeit gab, einen Schild zu erzeugen…

Sha.

Sie sah ihn an. Sie lauschte. Das taten auch Nicky und George, zumindest so gut sie konnten. Bei beiden war es so, als wären sie teilweise taub. Aber Sha hörte alles. Sie schob sich einen Bissen Eintopf in den Mund, legte den Löffel weg und schüttelte den Kopf.

Wir können nicht fliehen, Avery. Wenn du darauf hoffst, vergiss es lieber.

Ich weiß, dass wir das nicht können. Aber irgendwas müssen wir trotzdem tun. Wir müssen Luke helfen, und wir müssen uns selbst helfen. Ich sehe die Einzelteile, aber ich weiß nicht, wie man sie zusammenfügt. Ich weiß nicht…

»Du weißt nicht, wie man die Burg baut«, sagte Nicky mit leiser, nachdenklicher Stimme. Helen hatte aufgehört zu essen und blickte wieder an die Decke. Auch der Kopfwehschwamm wuchs bereits wieder; er schwoll an und verzehrte dabei weiter ihr Gehirn. Nicky steckte ihr einen weiteren Bissen in den Mund.

»Zigaretten!«, rief ein Pfleger und hielt eine Packung in die Höhe. Hier im Hinterbau konnte man offenbar umsonst rauchen. Es wurde sogar gefördert. »Wer will vor der Vorführung eine Zigarette?«

Wir können nicht fliehen, dachte Avery, ihr müsst mir also helfen, eine Burg zu bauen. Eine Mauer. Einen Schild. Unsere Burg. Unsere Mauer. Unseren Schild.

Sein Blick wanderte von Sha über Nicky zu George und wieder zurück zu Sha, die er anflehte, ihn zu verstehen. Ihr Blick hellte sich auf.

Sie kapiert es, dachte Avery. Gott sei Dank, sie kapiert es.

Sha wollte etwas sagen, machte jedoch den Mund wieder zu, weil der Pfleger – er hieß Clint – direkt an ihnen vorbeikam. »Zigaretten!«, blökte er. »Wer will vor der Vorführung eine?«

Als er fort war, sagte sie: »Wenn wir nicht fliehen können, müssen wir eben hier die Kontrolle übernehmen.«

10

Die anfänglich frostige Haltung von Deputy Wendy Gullickson gegenüber Tim hatte sich seit ihrem ersten Date in dem mexikanischen Restaurant in Hardeeville ins Gegenteil verwandelt. Inzwischen waren die beiden offiziell ein Paar, und als Wendy mit einer großen Papiertüte im Hinterzimmer von Mr. Jackson erschien, gab sie Tim zuerst einen Kuss auf die Wange und dann gleich einen zweiten auf den Mund.

»Das ist Deputy Gullickson«, sagte Tim. »Aber du kannst Wendy zu ihr sagen, wenn ihr das recht ist.«

»Ist es«, sagte Wendy. »Und wie heißt du?«

Luke sah Tim an, der ihm zunickte.

»Luke Ellis.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Luke. Da hast du dir ja einen anständigen blauen Fleck geholt.«