»Ja, Ma’am. Hatte einen Zusammenstoß.«
»Ja, Wendy. Außerdem kannst du uns gerne duzen. Was ist mit dem Verband an deinem Ohr? Hast du dich irgendwie geschnitten?«
Das brachte ihn zum Lächeln, weil es die reine Wahrheit war. »So in der Richtung.«
»Tim hat gesagt, dass du hungrig bist, daher hab ich dir was aus dem Lokal an der Hauptstraße geholt. Ich hab Coca-Cola, Hähnchenteile, Hamburger und Pommes. Was willst du haben?«
»Alles«, sagte Luke, was wiederum Wendy und Tim zum Lachen brachte.
Sie sahen zu, wie er zwei Hähnchenkeulen verschlang, dann einen Hamburger, den Großteil der Fritten und schließlich einen anständigen Becher Reispudding. Tim, der sein Mittagessen versäumt hatte, verzehrte die restlichen Hähnchenteile und trank eine Cola.
»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte Tim, als alles aufgegessen war.
Anstatt etwas zu erwidern, brach Luke in Tränen aus.
Wendy nahm ihn in die Arme und strich ihm über die Haare, wobei sie einige von den Knäueln mit den Fingern auflöste. Als er schließlich nur noch schluchzte, hockte Tim sich neben ihn.
»Tut mir leid«, sagte Luke. »Tut mir echt total leid.«
»Ist schon okay. Das darfst du.«
»Es ist, weil ich mich wieder lebendig fühle. Ich weiß zwar nicht, wieso mich das zum Heulen bringt, aber es ist so.«
»Ich glaube, das nennt man Erleichterung«, sagte Wendy.
»Luke behauptet, dass seine Eltern ermordet wurden und dass man ihn gekidnappt hat«, sagte Tim.
Wendy riss die Augen auf.
»Das ist keine Behauptung!« Luke setzte sich in Mr. Jacksons Sessel auf. »Das ist die Wahrheit!«
»Vielleicht hab ich mich blöd ausgedrückt. Erzähl uns deine Geschichte, Luke.«
Darüber dachte Luke nach. »Könntet ihr erst einmal etwas für mich tun?«, fragte er dann.
»Wenn es machbar ist«, sagte Tim.
»Schaut ihr bitte mal raus, ob der andere Typ noch da ist?«
»Norbert Hollister?« Tim grinste. »Dem hab ich gesagt, er soll verschwinden. Inzwischen ist er wahrscheinlich drüben bei Zoney’s, um sich Lotterielose zu kaufen. Er ist überzeugt, dass er der nächste Millionär von South Carolina wird.«
»Schau trotzdem nach.«
Tim sah Wendy an, die mit den Achseln zuckte. »Ich mach’s schon«, sagte sie.
Eine Minute später kam sie stirnrunzelnd wieder. »Der sitzt tatsächlich auf dem Schaukelstuhl drüben vor dem Bahnhof. Mit einer Zeitschrift in den Händen.«
»Ich glaube, er ist ein Onkel«, sagte Luke mit leiser Stimme. »Solche Onkel hatte ich schon in Richmond und Wilmington. In Sturbridge vielleicht auch. Ich hatte keine Ahnung, dass ich so viele Onkel hab.« Er lachte. Es war ein blechernes Geräusch.
Tim stand auf und trat gerade rechtzeitig vor die Tür, dass er sehen konnte, wie Norbert Hollister sich erhob und in Richtung seines klapprigen Motels davonwatschelte. Dabei blickte er sich nicht um. Tim kehrte zu Luke und Wendy zurück.
»Jetzt ist er weg, Junge.«
»Vielleicht, um die anzurufen«, sagte Luke. Er stieß mit dem Finger nach seiner leeren Coladose. »Ich lass mich von denen nicht zurückbringen. Ich hab gedacht, ich muss dort sterben.«
»Wo?«, fragte Tim.
»Im Institut.«
»Fang mal am Anfang an, und erzähl uns alles«, sagte Wendy.
Das tat Luke.
11
Als er fertig war – es dauerte beinahe eine halbe Stunde, und beim Erzählen leerte Luke eine zweite Cola–, blieb es einen Moment still. Dann sagte Tim ganz leise: »Das ist nicht möglich. Allein schon, weil so viele Entführungen Verdacht erregen würden.«
Darüber schüttelte Wendy den Kopf. »Du warst doch selbst bei der Polizei, da solltest du es besser wissen. Vor ein paar Jahren kam eine Studie raus, dass in den Vereinigten Staaten jedes Jahr fast eine halbe Million Kinder verschwinden. Eine ziemlich erstaunliche Zahl, meinst du nicht?«
»Ich weiß, dass die Zahlen hoch sind, in meinem letzten Dienstjahr unten in Sarasota County sind dort knapp fünfhundert Kinder als vermisst gemeldet worden, aber die Mehrzahl – die große Mehrzahl – taucht von selbst wieder auf.« Tim dachte an Robert und Roland Bilson, die Zwillinge, die er in den frühen Morgenstunden auf dem Weg zum Rummelplatz in Dunning erwischt hatte.
»Damit bleiben immer noch Tausende«, sagte Wendy. »Zehntausende.«
»Zugegeben, aber wie viele von denen, die verschwinden, hinterlassen ermordete Eltern?«
»Keine Ahnung. Ich bezweifle, dass da jemand eine Studie gemacht hat.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Luke zu, der das Gespräch wie ein Tennisspiel mit den Augen verfolgt hatte. Seine Hand steckte in der Hosentasche, wo er den USB-Stick betastete, als wäre der eine glückbringende Hasenpfote.
»Manchmal lassen die es wahrscheinlich nach einem Unfall aussehen«, sagte er.
Tim malte sich unwillkürlich aus, dass der Junge da mit Orphan Annie in ihrem Zelt wohnte. Dann würden die zwei gemeinsam nachts diesem Spinner im Radio zuhören. Wie er über die Verschwörung faselte. Und über diejenigen, die dafür angeblich verantwortlich waren.
»Du sagst, du hast dir das Ohrläppchen abgeschnitten, weil da ein Ortungschip drin war«, sagte Wendy. »Ist das wirklich wahr, Luke?«
»Ja.«
Wendy schien nicht zu wissen, wie sie weitermachen sollte. In der Miene, mit der sie Tim anblickte, stand geschrieben: Übernimm jetzt du.
Tim griff nach Lukes leerer Coladose und warf sie in die Papiertüte von Bev’s, die jetzt nur noch Einwickelpapier und Hähnchenknochen enthielt. »Du sprichst von einer geheimen Einrichtung, die mitten in unserem Land ein geheimes Programm betreibt, und das seit weiß Gott wie vielen Jahren. Früher wäre so etwas eventuell möglich gewesen, nehme ich an – theoretisch–, aber doch nicht im Computerzeitalter. Heute werden im Internet selbst die größten Staatsgeheimnisse von dieser skrupellosen Website namens…«
»Wikileaks, die kenne ich schon.« Luke klang ungeduldig. »Ich weiß, wie schwer es ist, Geheimnisse zu bewahren, und ich weiß, wie verrückt sich das alles anhört. Allerdings hatten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Konzentrationslager, in denen sie es geschafft haben, Millionen von Juden umzubringen. Außerdem Zigeuner und Schwule.«
»Aber die Leute, die in der Nähe von den Lagern wohnten, wussten, was da vor sich ging«, sagte Wendy. Sie versuchte, seine Hand zu ergreifen.
Luke entzog sich ihr. »Und ich wette eine Million Dollar, dass die Leute in Dennison River Bend, das ist der nächste Ort von dort aus, durchaus wissen, dass da irgendwas vor sich geht. Etwas Schlimmes. Bloß nicht, was genau, weil sie das nicht wissen wollen. Wieso sollten sie auch? Das Institut hält den Ort am Laufen, und außerdem: Wer würde schon glauben, dass so was möglich ist? Schließlich gibt es noch heute Leute, die nicht glauben, dass die Deutschen diese ganzen Juden umgebracht haben. Das nennt man Leugnen.«
Tja, dachte Tim, der Junge ist ganz schön intelligent. Die Geschichte, die er zum Verschleiern von dem, was ihm wirklich zugestoßen ist, erfunden hat, ist zwar durchgeknallt, aber er hat Köpfchen.
»Wollen wir mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte Wendy in sanftem Ton, genau wie Tim. Luke begriff, was das zu bedeuten hatte. Dass man so mit jemand sprach, der psychisch labil war – das zu kapieren, musste man kein verdammtes Wunderkind sein. Er war enttäuscht, wenn auch nicht überrascht. Was hätte er sonst erwarten sollen? »Diese Leute spüren irgendwie Kinder auf, die Telepathie beherrschen und etwas, was du als Teleki-Dingsbums bezeichnest…«
»Telekinese. Normalerweise ist so ein Talent ziemlich schwach, selbst Kinder, die TK-pos sind, haben nicht viel davon. Aber die Ärzte im Institut verstärken es. Spritze für Blitze, so nennen sie es, wir alle nennen es so, bloß das die Blitze eigentlich die Stass-Lichter sind, von denen ich euch erzählt habe. Die Spritzen, von denen die Lichter ausgelöst werden, sollen das, was wir haben, stärker machen. Ich glaube, manche von den anderen Spritzen sind dazu da, damit wir länger durchhalten. Oder…« Das war etwas, was ihm gerade erst eingefallen war. »Oder sie sollen verhindern, dass wir zu viel davon kriegen. Wodurch wir gefährlich für die Leute da werden würden.«