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»Wie Impfungen?«, fragte Tim.

»Könnte man so sagen, ja.«

»Schon bevor man dich gekidnappt hat, konntest du mit deinen Gedanken Gegenstände bewegen«, sagte Tim in seinem sanften Ich-spreche-mit-einem-Irren-Ton.

»Kleine Gegenstände.«

»Und seit der Nahtoderfahrung im Wassertank kannst du außerdem Gedanken lesen.«

»Schon vorher. Der Tank… hat das verstärkt. Aber ich bin trotzdem nicht…« Er massierte sich den Nacken. Es war schwer zu erklären, und die Stimmen der beiden da, so leise und so ruhig, gingen ihm allmählich auf die Nerven, und die waren ohnehin schon angespannt. Wenn das so weiterging, würde er bald so durchgeknallt sein, wie die beiden es vermuteten. Dennoch musste er es weiter versuchen. »Aber ich bin trotzdem nicht besonders stark darin. Das ist niemand von uns, außer vielleicht Avery. Der ist unglaublich stark.«

»Also, noch mal von vorne«, sagte Tim. »Diese Leute kidnappen Kinder, die schwache paranormale Kräfte haben, spritzen ihnen mentale Anabolika und benutzen sie dann dazu, bestimmte Personen umzubringen. Wie diesen Politiker, der Präsidentschaftskandidat war. Mark Berkowitz.«

»Genau.«

»Wieso dann nicht Bin Laden?«, sagte Wendy. »Ich könnte mir denken, dass der ein logisches Ziel für so ein… so ein mentales Attentat gewesen wäre.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Luke. Er klang erschöpft. Der Bluterguss an seiner Wange schien mit jeder Minute farbiger zu werden. »Ich hab keine Ahnung, wie sie ihre Ziele auswählen. Einmal hab ich mit meiner Freundin Kalisha darüber gesprochen. Die hatte auch keine Ahnung.«

»Wieso heuert diese mysteriöse Organisation nicht einfach Killer an? Wäre das nicht einfacher?«

»Das sieht bloß in Filmen einfach aus«, sagte Luke. »Im echten Leben scheitert so ein Killer meistens, oder er wird erwischt. Die Typen, die Bin Laden getötet haben, sind auch fast erwischt worden.«

»Demonstrier es uns doch mal«, sagte Tim. »Ich denke gerade an eine Zahl. Sag mir, an welche.«

Luke versuchte es. Er konzentrierte sich und wartete darauf, dass die farbigen Punkte erschienen, doch das taten sie nicht. »Ich schaffe es nicht.«

»Dann verschieb doch was. Ist das nicht dein eigentliches Talent, also das, weshalb man dich gekidnappt hat?«

Wendy schüttelte den Kopf. Tim war kein Telepath, wusste jedoch, was sie dachte: Hör auf, ihm zuzusetzen; er ist verwirrt, desorientiert und auf der Flucht. Aber wenn sie es schafften, die aberwitzige Geschichte des Jungen zu widerlegen, bekamen sie vielleicht etwas Wahres zu hören und hatten damit einen Ansatzpunkt.

»Wie wär’s mit der Papiertüte da? Jetzt ist kein Essen mehr drin, also ist sie leicht, da müsstest du sie doch verschieben können.«

Luke richtete den Blick auf die Tüte, während sich die Falten in seiner Stirn vertieften. Einen Moment glaubte Tim etwas zu spüren – ein Flüstern, das über seine Haut strich wie ein leichter Windhauch–, aber dann war es wieder weg, und die Papiertüte bewegte sich nicht. Natürlich nicht.

»Okay«, sagte Wendy. »Ich glaube, das reicht vor…«

»Ich weiß, dass ihr beide ein Paar seid«, sagte Luke. »Das weiß ich immerhin.«

Tim grinste. »Nicht besonders eindrucksvoll, Kleiner. Du hast ja gesehen, wie sie mich geküsst hat, als sie hereingekommen ist.«

Luke sah Wendy an. »Und du willst bald wegfahren. Um deine Schwester zu besuchen, stimmt’s?«

Sie riss die Augen auf. »Wie…«

»Fall nicht drauf rein«, sagte Tim… wenn auch sanft. »Das ist ein alter Trick von Wahrsagern – die begründete Vermutung. Wobei ich zugeben muss, dass der Junge den gut beherrscht.«

»Worauf könnte ich wohl eine Vermutung über Wendys Schwester gründen?«, fragte Luke, allerdings ohne große Hoffnung. Er hatte seine Karten nacheinander ausgespielt, und jetzt hatte er nur noch eine einzige in der Tasche. Außerdem war er unglaublich müde. Das bisschen Schlaf im Zug war unruhig gewesen und durchsetzt von schlimmen Träumen. Hauptsächlich von welchen über den Wassertank.

»Können wir dich mal einen Moment allein lassen?«, fragte Tim. Ohne auf eine Antwort zu warten, zog er Wendy durch die Tür ins Büro. Dort sprach er kurz mit ihr. Sie nickte und ging nach draußen, wobei sie ihr Handy aus der Tasche zog. Tim kam zurück. »Ich glaube, wir bringen dich am besten erst mal zur Station.«

Zuerst dachte Luke, es wäre von der Bahnstation die Rede. Dass Tim ihn in einen neuen Güterzug setzen wollte, damit er und seine Freundin sich nicht mit dem ausgerissenen Jungen und seiner irren Geschichte beschäftigen mussten. Dann wurde ihm klar, dass Tim etwas anderes meinte.

Na und, dachte Luke. Mir war schon immer klar, dass ich irgendwo in einer Polizeistation landen werde. Und vielleicht ist eine kleine besser als eine große, wo sie massenhaft Leute – Kriminelle – an der Backe haben.

Allerdings hielten die beiden ihn für paranoid, was diesen Hollister anging, und das war nicht gut. Vorläufig musste er hoffen, dass sie recht hatten und Hollister einfach irgendein Typ war. Sie hatten sogar wahrscheinlich recht. Schließlich konnte das Institut unmöglich überall Leute postiert haben, oder?

»Okay, aber zuerst muss ich euch was erzählen und euch was zeigen.«

»Nur zu«, sagte Tim. Er beugte sich vor und blickte Luke aufmerksam ins Gesicht. Vielleicht will er mich bloß aufmuntern, weil ich so neben der Spur bin, dachte Luke, aber wenigstens hört er zu, und das ist wohl das Beste, was ich im Moment erwarten kann.

»Wenn die rauskriegen, dass ich hier bin, kommen sie mich holen. Wahrscheinlich bewaffnet. Weil sie fürchterliche Angst haben, dass jemand mir glauben könnte.«

»Zur Kenntnis genommen«, sagte Tim. »Aber wir haben eine ganz anständige kleine Polizeitruppe hier, Luke. Ich glaube, da bist du in Sicherheit.«

Du hast ja keine Ahnung, mit wem du es zu tun kriegen könntest, dachte Luke, aber er konnte jetzt nicht lange rumtun, um Tim zu überzeugen. Dazu war er einfach zu erschöpft. Wendy kam wieder und nickte Tim zu. Auch darum kümmerte sich Luke nicht, weil er zu erschöpft war.

»Die Frau, die mir bei der Flucht aus dem Institut geholfen hat, hat mir zwei Sachen gegeben«, sagte er. »Das eine war das Messer, mit dem ich mir das Ohrläppchen mit dem Chip abgeschnitten habe. Das andere ist das hier.« Er zog den USB-Stick aus der Hosentasche. »Ich weiß nicht, was drauf ist, aber ich glaube, ihr solltet es euch ansehen, bevor ihr irgendetwas anderes unternehmt.«

Er reichte Tim den Stick.

12

Die Insassen des Hinterbaus – genauer gesagt von dessen vorderem Teil, denn die achtzehn, die sich derzeit auf dem Rübenacker aufhielten, blieben hinter ihrer verschlossenen Tür und summten vor sich hin – hatten zwanzig Minuten Freizeit, bevor der Film anfing. Jimmy Cullum trottete wie ein Zombie mit seinem schmerzenden Kopf in sein Zimmer; Hal, Donna und Len blieben in der Cafeteria sitzen. Die beiden Jungen starrten auf ihren halb gegessenen Nachtisch (heute Abend Schokoladenpudding), Donna betrachtete die glimmende Zigarette in ihrer Hand, als hätte sie vergessen, wie man rauchte.

Kalisha, Nicky, George, Avery und Helen gingen in den Aufenthaltsraum mit seinen hässlichen Discountmöbeln und dem alten Flachbildfernseher, auf dem nur prähistorische Sitcoms wie Verliebt in eine Hexe und Happy Days liefen. Katie Givens saß schon da. Anstatt sich nach den anderen umzublicken, starrte sie auf den derzeit erloschenen Bildschirm. Zu ihrer Überraschung entdeckte Kalisha auch Iris, die besser aussah als an den letzten Tagen. Heiterer.