Kalisha dachte angestrengt nach, was sie tun konnte, weil sie sich ebenfalls besser fühlte als seit Tagen. Was sie gegen Helens Kopfschmerzen unternommen hatten – hauptsächlich war es Avery gewesen, aber sie hatten alle mitgeholfen–, hatte auch etwas gegen ihr eigenes Schädeldröhnen bewirkt. Auch gegen das von Nicky und George, das konnte sie sehen.
Die Kontrolle übernehmen.
Eine ebenso kühne wie beglückende Vorstellung, aber dabei ergaben sich sofort allerhand Fragen. Am offensichtlichsten war die Frage, wie sie das anstellen sollten, wenn mindestens zwölf Pfleger im Dienst waren – an Filmtagen waren es immer mehr. Die zweite Frage lautete, weshalb sie bisher nie daran gedacht hatten.
Ich hab durchaus daran gedacht, teilte Nicky ihr mit. War seine mentale Stimme stärker geworden? Es sah ganz so aus, und auch dabei konnte Avery eine Rolle gespielt haben. Weil der jetzt selbst stärker war. Ich hab schon daran gedacht, als sie mich hierhergebracht haben.
Mehr konnte Nicky nicht rein gedanklich übertragen, weshalb er den Rest direkt in ihr Ohr flüsterte. »Schließlich war ich derjenige, der sich immer schon gewehrt hat, weißt du noch?«
Das stimmte. Nicky, der ständig ein blaues Auge gehabt hatte. Nicky mit seinem malträtierten Mund.
»Wir sind nicht stark genug«, murmelte er. »Selbst hier, selbst nach den Lichtern, haben wir keine besonders großen Kräfte.«
Avery hingegen sah Kalisha mit einem Ausdruck verzweifelter Hoffnung an. Er sandte ihr etwas in ihren Kopf, was jedoch kaum nötig war. Seine Augen sagten bereits alles. Das sind die Einzelteile, Sha. Ich bin mir ziemlich sicher, dass alle vorhanden sind. Hilf mir, sie zusammenzusetzen. Hilf mir, eine Burg zu bauen, in der wir geschützt sind, zumindest eine Weile.
Sie dachte an den alten, verblassten Sticker für Hillary Clinton, der auf der hinteren Stoßstange vom Subaru ihrer Mutter klebte. GEMEINSAM STÄRKER stand darauf, und so lief es natürlich auch hier im Hinterbau. Deshalb mussten sie sich gemeinsam Filme anschauen. Deshalb konnten sie die Leute, die in diesen Filmen gezeigt wurden, über eine Entfernung von mehreren Tausend Meilen erreichen, ja manchmal sogar auf der anderen Seite der Erde. Wenn sie zu fünft (oder zu sechst, falls sie die Kopfschmerzen von Iris auf dieselbe Weise lindern konnten wie die von Helen) in der Lage waren, eine solche vereinte mentale Kraft zu erschaffen, eine Gedankenverschmelzung wie die der Vulkanier in Star Trek, würde das nicht womöglich dazu ausreichen, zu meutern und den Hinterbau unter Kontrolle zu bringen?
»Das ist eine geile Idee, aber ich glaube, eher nicht«, sagte George. Er nahm Kalishas Hand und drückte sie kurz. »Vielleicht schaffen wir es, denen ein bisschen im Kopf herumzuspuken und ihnen gewaltig Angst zu machen, aber sie haben ja die Schockstöcke, und sobald sie einen oder zwei von uns damit erwischt haben, ist das Spiel vorbei.«
Das wollte Kalisha zwar nicht zugeben, aber sie ließ ihn trotzdem wissen, dass er wahrscheinlich recht hatte.
Avery: Einen Schritt nach dem anderen.
»Ich kann nicht hören, was ihr denkt«, sagte Iris. »Ich weiß, dass ihr irgendwas denkt, aber mein Kopf tut immer noch brutal weh.«
Avery: Schauen wir mal, was wir für sie tun können. Wir alle zusammen.
Kalisha sah Nicky an, der nickte. Dann George, der mit den Achseln zuckte und ebenfalls nickte.
Avery führte die anderen in den Kopf von Iris Stanhope wie ein Forscher, der sein Team in eine Höhle führte. Der Schwamm in ihrem Geist war riesengroß. Avery sah ihn blutfarben, weshalb alle ihn so sahen. Sie platzierten sich um das Ding herum und fingen an zu drücken. Der Schwamm gab minimal nach… noch ein bisschen mehr… aber dann wehrte er sich gegen ihre Bemühungen. Als Erster zog George sich zurück, dann Helen (die ohnehin nicht viel hatte beitragen können), dann Nicky und Kalisha. Der Letzte war Avery, der dem Kopfschmerzschwamm verärgert einen mentalen Tritt versetzte, bevor er sich zurückzog.
»Etwas besser, Iris?«, fragte Kalisha ohne große Hoffnung.
»Was soll besser sein?« Die Frage kam von Katie Givens, die sich zu ihnen gesellt hatte.
»Meine Kopfschmerzen«, sagte Iris. »Ja, tatsächlich. Ein bisschen wenigstens.« Sie lächelte Katie an, und für einen Moment war sie wieder das Mädchen, das einmal den Buchstabierwettbewerb von Abilene gewonnen hatte.
Katie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu. »Wo sind eigentlich Richie Cunningham und Fonzie?«, fragte sie und massierte sich die Schläfen. »Wenn bloß mein Kopf auch besser wäre, der tut nämlich beschissen weh!«
Ihr seht das Problem, oder, fragte George die anderen.
Kalisha sah es. Ja, sie waren jetzt stärker, aber noch nicht stark genug. Genau wie Hillary Clinton, als sie vor ein paar Jahren als Präsidentin kandidiert hatte. Weil der Typ, der gegen sie angetreten war, und seine Unterstützer das politische Pendant von Schockstöcken eingesetzt hatten.
»Aber mir hat es geholfen«, sagte Helen. »Meine Kopfschmerzen sind fast weg. Das ist wie ein Wunder.«
»Keine Sorge«, sagte Nicky. Dass er sich dabei so niedergeschlagen anhörte, machte Kalisha Angst. »Es kommt schon wieder.«
Corinne, die Pflegerin, die gern Ohrfeigen verteilte, kam herein. Eine Hand hatte sie auf den im Gürtelholster steckenden Schockstock gelegt, als hätte sie etwas gespürt. Hat sie wahrscheinlich auch, dachte Kalisha, aber sie weiß nicht, was.
»Zeit für die Filme«, sagte sie. »Auf geht’s, Leute, hoch den Arsch!«
13
Vor den beiden offenen Türen des Vorführraums standen Jake und Phil (bekannt als Jake the Snake und Phil the Pill). Jeder hatte ein Körbchen in den Händen. Während die Kinder nacheinander eintraten, legten sie alle Zigaretten und Streichhölzer (Feuerzeuge waren im Hinterbau nicht erlaubt) da hinein. Nach der Vorführung bekamen sie das Zeug wieder… falls sie sich daran erinnerten, es sich zu holen. Hal, Donna und Len saßen bereits in der hintersten Reihe und starrten ausdruckslos auf die leere Leinwand. Katie Givens setzte sich in die mittlere Reihe neben Jimmy Cullum, der sich lustlos in der Nase bohrte.
Kalisha, Nicky, George, Helen, Iris und Avery setzten sich nach ganz vorn.
»Willkommen zu einem weiteren Abend voller Spaß und guter Laune«, sagte Nicky mit lauter Ansagerstimme. »Der heutige Streifen, der einen Oscar in der Kategorie Beschissenster Dokumentarfilm gewonnen…«
Phil the Pill knallte ihm eine an den Hinterkopf. »Klappe, du Arschloch! Und viel Vergnügen bei der Show.«
Phil zog sich zurück. Das Licht erlosch, und Dr. Hendricks erschien auf der Leinwand. Schon als Kalisha die nicht angezündete Wunderkerze in seiner Hand sah, bekam sie einen trockenen Mund.
Da war irgendetwas, was ihr entging. Ein unerlässliches Teil von Averys Burg. Es war allerdings nicht verloren, sie sah es nur einfach nicht.
Gemeinsam sind wir stärker, aber nicht stark genug, dachte sie. Selbst wenn die armen Beinaherüben wie Jimmy, Hal und Donna mitmachen würden, wären wir das nicht. Aber wir könnten es sein. An Abenden, an denen die Wunderkerze angezündet wird, sind wir es. Wenn sie angezündet wird, sind wir Zerstörer – was entgeht mir also?
»Willkommen, Jungs und Mädels«, sagte Dr. Hendricks. »Danke, dass ihr uns unterstützt! Wie wär’s, wenn wir mit etwas Lustigem anfangen? Bis später!« Er wedelte mit der nicht angezündeten Wunderkerze und zwinkerte sogar. Kalisha hätte am liebsten gekotzt.