Wenn wir die andere Seite der Erde erreichen können, warum können wir dann nicht…
Einen Moment lang hatte sie es beinahe, doch dann stieß Katie einen lauten Schrei aus, nicht vor Schmerz oder Kummer, sondern vor Vergnügen. »Der Road Runner! Der ist der allerbeste!« Sie begann in einer halb kreischenden Falsettstimme zu singen, die sich Kalisha ins Hirn bohrte. »Road Runner, Road Runner, der Kojote wetzt sein Messer! Road Runner, Road Runner, lauf, das kannst du besser!«
»Hör auf, Katie«, sagte George nicht unfreundlich, aber während der Road Runner – miep, miep – auf einem verlassenen Highway durch die Wüste flitzte, beobachtet von Wile E. Coyote, der in ihm einen leckeren Imbiss sah, spürte Kalisha, wie ihr das, was sie fast hatte greifen können, entschwebte.
Als der Zeichentrickfilm vorüber und Wile E. Coyote wieder einmal gescheitert war, erschien ein Mann im Anzug auf der Leinwand. In der Hand hatte er ein Mikrofon. Zuerst hielt Kalisha ihn für einen Geschäftsmann, was vielleicht irgendwie auch zutraf, aber das war nicht der Hauptgrund für seine Berühmtheit. In erster Linie war er ein Prediger, denn als die Kamera sich zurückzog, wurde hinter ihm ein großes Kreuz mit rot leuchtenden Neonrändern sichtbar, und nach dem nächsten Kameraschwenk sah man eine riesige, mit mehreren Tausend Menschen gefüllte Halle, wenn nicht gar ein Stadion. Die Leute standen alle auf, manche schwenkten die Hände in der Luft hin und her, andere hielten eine Bibel in die Höhe.
Der Mann begann mit einer normalen Predigt, bei der er Bibelverse rezitierte, doch dann erregte er sich darüber, dass das Land durch die Opioide und die ganze Unzucht vor die Hunde gehe. Anschließend sprach er über Politik, bestimmte Richter und darüber, dass Amerika eine leuchtende Stadt auf einem Hügel sei, die von den Gottlosen mit Dreck beschmiert werde. Anschließend begann er zu erzählen, dass Hexerei das Volk von Samaria betört habe (was das mit Amerika zu tun hatte, erschloss sich Kalisha nicht), doch dann kamen die farbigen Punkte, sie blitzten auf und erloschen wieder. Das Summen schwoll an und ab. Kalisha spürte es sogar in ihrer Nase, wo es die Härchen zum Vibrieren brachte.
Als die Punkte sich auflösten, sah man den Prediger mit einer Frau, mit der er wahrscheinlich verheiratet war, ein Flugzeug besteigen. Die Punkte kamen wieder. Das Summen schwoll an und ab. Im Kopf hörte Kalisha die Stimme von Avery, der etwas sagte, was sich wie die sehen es auch anhörte.
Wer sieht es auch?
Avery antwortete nicht, wahrscheinlich weil er in den Film gesogen wurde. Das war es, was die Stass-Lichter mit einem machten, sie sogen einen total hinein. Der Prediger war wieder in Aktion, und zwar gewaltig; diesmal stand er mit einem Megafon auf der Ladefläche eines Pritschenwagens. Man sah Schilder mit der Aufschrift HOUSTON LIEBT DICH und GOTT HAT NOAH DEN REGENBOGEN GEZEIGT und JOHANNES 3,16. Dann die Punkte. Und das Summen. Mehrere von den leeren Kinosesseln klappten von selbst hoch und runter wie unbefestigte Fensterläden bei einem starken Sturm. Die Türen des Vorführraums flogen auf. Jake the Snake und Phil the Pill drückten sie wieder zu, indem sie sich mit den Schultern dagegenstemmten.
Jetzt stand der Prediger in einer Art Obdachlosenasyl. Er trug eine Kochschürze und rührte in einem riesigen Topf mit Spaghettisoße. Neben ihm stand seine Frau, beide grinsten, und diesmal hörte Kalisha in ihrem Kopf die Stimme von Nick: Schön in die Kamera grinsen! Undeutlich nahm sie wahr, dass ihre Haare wie bei einem elektrischen Experiment vom Kopf abstanden.
Blitze. Summen.
Als Nächstes saß der Prediger mit einigen anderen Leuten in einem Fernsehstudio. Einer von den anderen warf ihm vor, er sei… irgendwas… komplizierte Wörter, die Lukey sicher verstanden hätte… und der Prediger lachte, als wäre das ein unheimlich lustiger Witz. Er hatte ein tolles Lachen, bei dem man am liebsten mitlachen wollte. Falls man nicht gerade wahnsinnig wurde.
Blitze. Summen.
Jedes Mal wenn die Stass-Lichter wiederkehrten, kamen sie Kalisha heller vor, und jedes Mal schienen sie tiefer in ihren Kopf einzudringen. In ihrem momentanen Zustand wirkten sämtliche Videoclips, aus denen der Film bestand, faszinierend. Sie waren mit Hebeln versehen. Wenn es so weit war – wahrscheinlich morgen Abend oder am Abend darauf–, würden die Kinder im Hinterbau diese Hebel betätigen.
»Ich hasse das«, sagte Helen mit leiser, verstörter Stimme. »Wann ist es endlich vorbei?«
Der Prediger stand vor einer noblen Villa, in der offenbar eine Party stattfand. Der Prediger fuhr in einem Autokorso mit. Der Prediger war bei einem großen Grillfest; die Gebäude hinter ihm waren mit roten, weißen und blauen Wimpeln geschmückt. Die Leute aßen Würstchen am Stiel und große Stücke Pizza. Er predigte darüber, dass die von Gott bestimmte natürliche Ordnung der Dinge heute pervertiert werde, doch dann verstummte seine Stimme und wurde durch die von Dr. Hendricks ersetzt.
»Das ist Paul Westin, Kinder. Er wohnt in Deerfield, Indiana. Paul Westin. Deerfield, Indiana. Paul Westin, Deerfield, Indiana. Sagt es gemeinsam mit mir, Jungs und Mädels.«
Teils weil sie keine andere Wahl hatten, teils weil es den bunt blitzenden Punkten und dem an- und abschwellenden Summen gnädig ein Ende bereiten würde, vor allem jedoch weil sie jetzt vollständig darin versunken waren, verfielen die elf Kinder im Vorführraum in einen Sprechchor. Auch Kalisha machte mit. Was die anderen empfanden, wusste sie nicht, doch für sie war das der absolut schlimmste Teil der Filmabende. Es war ihr zuwider, dass es sich gut anfühlte. Sie hasste es zu spüren, wie diese Hebel nur darauf warteten, betätigt zu werden. Wie sie darum bettelten! Sie kam sich vor, als wäre sie eine Bauchrednerpuppe auf dem Knie des verdammten Doktors da.
»Paul Westin, Deerfield, Indiana! Paul Westin, Deerfield, Indiana! PAUL WESTIN, DEERFIELD, INDIANA!«
Dann erschien wieder Dr. Hendricks auf der Leinwand, lächelnd und mit der nicht angezündeten Wunderkerze in der Hand. »Recht so! Paul Westin, Deerfield, Indiana. Vielen Dank, Kinder, ich wünsche euch eine gute Nacht. Bis morgen!«
Ein letztes Mal kehrten die Stass-Lichter wieder, blinkend, kreisend und wirbelnd. Kalisha biss die Zähne zusammen, während sie darauf wartete, dass die Lichter verschwanden. Sie fühlte sich wie eine winzige Raumkapsel, die durch ein Getümmel aus riesigen Asteroiden taumelte. Das Summen war lauter denn je, doch als die Lichter sich auflösten, hörte es so abrupt auf, als hätte man den Stecker eines Verstärkers gezogen.
Die sehen es auch, hatte Avery gesagt. War das das fehlende Element? Und wenn ja, wer waren die?
Im Vorführraum ging das Licht an. Die Türen öffneten sich; an einer stand Jake the Snake, an der anderen Phil the Pill. Die meisten Kinder gingen hinaus, nur Donna, Len, Hal und Jimmy blieben sitzen. Wahrscheinlich hingen sie da auf den bequemen Sesseln rum, bis die Pfleger kamen, um sie in ihre Zimmer zu scheuchen. Einer oder zwei von ihnen, wenn nicht gar alle vier, kamen eventuell bald auf den Rübenacker, aber erst nach der morgigen Vorführung. Nach der großen Show. Bei der sie taten, was dem Prediger angetan werden sollte.
Sie durften noch eine halbe Stunde in den Aufenthaltsraum, bevor man sie für die Nacht in ihren Zimmern einschloss. Kalisha machte sich auf den Weg dorthin, gefolgt von George, Nicky und Avery. Nach einigen Minuten kam auch Helen hereingeschlurft und setzte sich auf den Boden, eine unangezündete Zigarette in der Hand. Die früher so knalligen Haare hingen ihr ins Gesicht. Als Letzte trudelten Iris und Katie ein.
»Meinem Kopf geht’s besser«, verkündete Katie.