Ja, dachte Kalisha, nach den Filmen sind die Kopfschmerzen weniger stark… aber nur für kurze Zeit. Und jedes Mal wird sie ein bisschen kürzer.
»Ein weiterer Abend voller Spaß und guter Laune«, murmelte George.
»Na gut, Leute, was haben wir erfahren?«, sagte Nicky. »Dass jemand nicht besonders gut auf Reverend Paul Westin aus Deerfield, Indiana, zu sprechen ist.«
Kalisha fuhr sich mit dem Daumen über die Lippen und warf einen Blick an die Decke. Mikros, dachte sie in Richtung Nicky. Pass auf.
Nicky richtete die Fingerpistole auf den Kopf und tat so, als würde er sich erschießen. Das brachte die anderen zum Lächeln. Morgen würde das anders sein, dachte Kalisha. Da würde niemand lächeln. Nach dem morgigen Film würde Dr. Hendricks mit der brennenden Wunderkerze auftauchen, worauf das Summen zu einem dröhnenden Rauschen anschwoll. Hebel würden betätigt werden. Dann kam eine Periode von unbekannter Länge, zugleich wohltuend und schrecklich, in der die Kopfschmerzen völlig verschwunden waren. Anstatt dass man sich fünfzehn bis zwanzig Minuten nach der Vorführung besser fühlte, war man herrliche sechs oder gar acht Stunden von allen Schmerzen befreit. Und irgendwo würde danach Paul Westin aus Deerfield, Indiana, etwas tun, was sein Leben entscheidend veränderte – oder gar beendete. Für die Kinder im Hinterbau ging das Leben weiter… wenn man es so bezeichnen wollte. Die Kopfschmerzen würden wiederkommen, und zwar schlimmer. Jedes Mal wurden sie schlimmer. Anstatt das Summen nur zu spüren, würden sie alle schließlich ein Teil davon werden. Dann waren sie alle nur noch eine von den…
Von den Rüben!
Das war Avery. Niemand anderes konnte seine Gedanken mit einer solchen Klarheit projizieren. Es war, als würde er in Kalishas Kopf sitzen. So funktioniert es nämlich, Sha! Weil die…
»Weil die es auch sehen«, flüsterte Kalisha, und da – zack – war es, das fehlende Element. Sie presste die Handballen an die Stirn, nicht weil die Kopfschmerzen wiedergekommen waren, sondern weil es so wunderbar offensichtlich war. Dann fasste sie Avery an die kleine, knochige Schulter.
Die Rüben sehen das, was wir sehen. Weshalb sollte man sie sonst behalten?
Nicky legte den Arm um Kalisha und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Als seine Lippen sie berührten, zitterte sie. »Was redet ihr da? Die haben doch gar nichts mehr im Kopf. Was uns bekanntlich auch bald blühen wird.«
Avery: Das macht sie ja gerade stärker. Alles, was sie hatten, ist fort. Herausgeschält. Sie sind die Batterie. Wir sind nur…
»Der Schalter«, flüsterte Kalisha. »Der Zündschalter.«
Avery nickte. »Wir müssen sie uns zunutze machen.«
Wann? Die mentale Stimme von Helen Simms war die eines kleinen, verängstigten Kindes. Es muss bald sein, denn lange halte ich’s hier nicht mehr aus.
»Keiner von uns hält es aus«, sagte George. »Außerdem ist diese Bitch jetzt…«
Kalisha schüttelte warnend den Kopf, worauf George mental weitersprach. Darin war er nicht besonders gut, zumindest noch nicht, aber sie begriff, worauf er hinauswollte. Das begriffen alle. Momentan war Mrs. Sigsby, diese Bitch, hauptsächlich mit Luke beschäftigt. Stackhouse ebenfalls. Genauer gesagt galt das für das gesamte Personal vom Institut, denn alle wussten, dass Luke geflohen war. Dass die alle aufgeschreckt und abgelenkt waren, war ihre Chance. Eine solche Gelegenheit würden sie nie wieder bekommen.
Nickys Miene hellte sich auf. Jetzt oder nie!
»Aber wie?«, fragte Iris. »Wie stellen wir es an?«
Avery: Ich glaube, das weiß ich, aber wir brauchen auch noch Hal, Donna, Jimmy und Len.
»Bist du dir sicher?«, sagte Kalisha und fügte hinzu: Die sind doch schon fast hinüber.
»Ich hole sie«, sagte Nicky und erhob sich. Er lächelte. Der Avester hat recht. Es kommt auf jedes bisschen Unterstützung an.
Kalisha fiel auf, dass seine mentale Stimme stärker geworden war. Lag das am Sender oder am Empfänger?
An beiden, sagte Avery. Auch er lächelte. Weil wir es jetzt für uns selbst tun.
Ja, dachte Kalisha. Jetzt taten sie es für sich selbst. Sie mussten sich nicht damit begnügen, wie hirnlose Puppen auf dem Knie des Bauchredners zu sitzen. Es war so einfach und doch eine Offenbarung: Was man für sich selbst tat, verlieh einem Kraft.
14
Ungefähr zu der Zeit, als Avery – tropfnass und zitternd – durch den Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau geführt wurde, startete die Challenger des Instituts (am Heck stand 940NF, auf dem Rumpf MAINE PAPER INDUSTRIES) von Erie, Pennsylvania, jetzt mit dem gesamten Einsatzteam an Bord. Als die Maschine ihre Reiseflughöhe erreichte und die kleine Stadt Alcolu ansteuerte, wurde Luke Ellis gerade von Tim Jamieson und Wendy Gullickson in die Dienststelle des Sheriffs von Fairlee County begleitet.
Viele Rädchen, die sich alle in derselben Maschine drehten.
»Das ist Luke Ellis«, sagte Tim. »Luke, das sind die Deputys Faraday und Wicklow.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Luke ohne große Begeisterung.
Bill Wicklow betrachtete Lukes lädiertes Gesicht und sein verbundenes Ohr. »Was hat der denn angestellt?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Wendy, bevor Luke etwas erwidern konnte. »Wo ist Sheriff John?«
»In Dunning«, sagte Bill. »Seine Mutter lebt da im Altersheim. Sie hat… Du weißt schon.« Er tippte sich an die Schläfe. »Gegen fünf ist er wieder da, hat er gesagt, außer sie hat einen guten Tag. Dann bleibt er vielleicht zum Abendessen dort.« Wieder beäugte er den erschöpften Jungen in seinen schmutzigen Klamotten, dem man den Ausreißer schon an der Nasenspitze anzusehen glaubte. »Ist das ein Notfall?«
»Eine gute Frage«, sagte Tim. »Sag mal, Taggy, hast du die Erkundigungen eingezogen, um die Wendy dich gebeten hat?«
»Hab ich«, sagte Tag Faraday. »Komm mal mit ins Büro vom Sheriff, dann kann ich dich ins Bild setzen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Tim. »Ich glaube nicht, dass du mir irgendwas erzählen wirst, was Luke nicht längst weiß.«
»Bist du dir da sicher?«
Tim warf einen Blick auf Wendy, die nickte, und dann auf Luke, der die Achseln zuckte. »Ja.«
»Okay. Herbert und Eileen Ellis, die Eltern von dem Jungen da, wurden vor sieben Wochen in ihrem Haus ermordet. In ihrem Schlafzimmer erschossen.«
Luke fühlte sich, als stünde er außerhalb seines Körpers. Zwar tauchten keine Blitze auf, aber so fühlte es sich jedes Mal an, wenn sie es taten. Er stakste zu dem zwei Schritte entfernten Drehstuhl am Disponententisch und ließ sich darauf fallen. Der Stuhl rollte rückwärts und wäre umgestürzt, wäre er nicht zuerst an die Wand geprallt.
»Alles in Ordnung, Luke?«, fragte Wendy.
»Nein. Doch, ja. Den Umständen entsprechend. Diese Arschlöcher im Institut – Dr. Hendricks und Mrs. Sigsby und die Pfleger – haben behauptet, dass meinen Eltern nichts passiert wäre, absolut nichts, aber schon bevor ich es auf meinem Computer gesehen hab, wusste ich, dass sie tot sind. Ich hab’s gewusst, aber es ist trotzdem… furchtbar.«
»Hattest du dort etwa einen Computer?«, fragte Wendy.
»Ja. Hauptsächlich, um zu zocken und mir auf Youtube Musikvideos reinzuziehen. Irrelevantes Zeug. Websites mit Nachrichten waren eigentlich blockiert, aber ich hab gewusst, wie man das umgeht. Sie hätten meine Suchanfragen überwachen sollen, dann hätten sie mich erwischt, aber dafür waren sie zu… zu faul. Zu überheblich. Sonst wäre ich auch nie da rausgekommen.«
»Wovon redet der eigentlich?«, fragte Deputy Wicklow.