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Tim schüttelte den Kopf. Er hatte den Blick auf Tag Faraday gerichtet. »Von der Polizei in Minneapolis weißt du das nicht, oder?«

»Nein, aber nicht, weil ihr mir gesagt habt, ich soll da nicht anrufen. Sheriff John wird entscheiden, wen er wann kontaktieren will. So läuft das hier bei uns. Auf Google hab ich allerdings mehr als genug gefunden.« Er warf Luke einen argwöhnischen Blick zu. »Der Junge ist in der Datenbank des Nationalen Zentrums für vermisste und missbrauchte Kinder aufgeführt, außerdem haben die Star Tribune in Minneapolis und die Pioneer Press in St. Paul ausführlich über ihn berichtet. Laut deren Websites ist er angeblich hochintelligent. Ein Wunderkind.«

»So hört er sich auch an«, sagte Bill. »Benutzt ’ne Menge hochgestochene Ausdrücke.«

Ich sitze doch vor euch, dachte Luke. Also redet nicht so, als wär ich woanders.

»Als Verdächtigen führt die Polizei ihn nicht«, fuhr Tag fort. »Jedenfalls steht das nicht ausdrücklich in den Zeitungsartikeln, aber man will ihn natürlich befragen.«

Jetzt ergriff Luke doch das Wort. »Garantiert wollen sie das«, sagte er. »Und ihre erste Frage wird wahrscheinlich lauten: Wo hast du die Waffe her, Junge?«

»Hast du sie denn umgebracht?« Die Frage stellte Bill so beiläufig, als würde er sich damit nur die Zeit vertreiben. »Sag die Wahrheit, Junge. Das ist bloß zu deinem Vorteil.«

»Nein. Ich liebe meine Eltern. Die Leute, die sie umgebracht haben, waren Diebe, und ich war das, was sie stehlen wollten. Der Grund dafür war nicht, dass ich bei der Zulassungsprüfung zum College fast die Höchstpunktzahl erzielt hab, ich im Kopf komplizierte Gleichungen lösen kann oder dass ich weiß, dass Hart Crane Suizid begangen hat, indem er im Golf von Mexiko von einem Boot gesprungen ist. Sie haben meine Eltern umgebracht und mich gekidnappt, weil ich manchmal eine Kerze ausblasen konnte, indem ich sie nur angeschaut hab, und weil ich bei Rocket Pizza ein Pizzablech vom Tisch schieben konnte. Ein leeres Blech. Wenn es voll gewesen wäre, hätte es sich nicht einmal bewegt.« Er warf einen Blick auf Tim und Wendy und lachte. »Damit hätte ich nicht mal bei einem miesen kleinen Rummelplatz ’nen Job bekommen.«

»Ich weiß nicht, was da so lustig dran sein soll«, sagte Tag Faraday stirnrunzelnd.

»Ich auch nicht«, sagte Luke. »Aber manchmal lache ich trotzdem. Mit meinen Freunden Kalisha und Nick hab ich trotz allem, was wir durchgemacht haben, auch viel gelacht. Außerdem war es ein langer Sommer.« Diesmal lachte er nicht, aber er lächelte. »Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen.«

»Ich hab den Eindruck, dass du ein bisschen Schlaf brauchst«, sagte Tim. »Hör mal, Tag, sitzt gerade jemand in ’ner Zelle?«

»Nee.«

»Okay, dann können wir ja…«

Luke schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall«, sagte er mit verängstigter Miene. »Auf gar keinen Fall.«

Tim hob die Hände. »Natürlich werden wir dich nicht einsperren. Wir lassen die Tür weit offen.«

»Nein. Bitte tut das nicht. Bitte zwingt mich nicht, in einer Zelle zu sitzen!« Nun sah er nicht mehr verängstigt, sondern entsetzt aus, und zum ersten Mal glaubte Tim wenigstens einen Teil von seiner Geschichte. Dieses paranormale Zeug war Blödsinn, aber was er da vor sich sah, war ihm von seiner Zeit bei der Polizei her vertraut – der Blick und das Verhalten eines Kindes, das missbraucht worden war.

»Tja, wie wär’s dann mit dem Sofa da im Wartebereich?« Wendy deutete darauf. »Das ist zwar durchgesessen, aber nicht zu schlimm. Ich hab mich selbst schon ein paarmal draufgelegt.«

Falls das stimmte, hatte Tim es nie gesehen, aber der Junge war eindeutig erleichtert. »Okay, dann nehme ich das. Mr. Jamieson… Tim… den USB-Stick hast du doch noch, oder?«

Tim zog den Stick aus der Brusttasche und hielt ihn in die Höhe. »Da ist er.«

»Gut.« Luke schlurfte zum Sofa. »Es wäre toll, wenn ihr diesen Mr. Hollister unter die Lupe nehmen würdet. Ich glaube wirklich, dass der ein Onkel sein könnte.«

Die beiden Deputys sahen Tim mit demselben verblüfften Ausdruck an. Er schüttelte den Kopf.

»Einer von den Typen, die nach mir Ausschau halten«, sagte Luke. »Sie behaupten, dass sie mein Onkel sind. Oder vielleicht auch ein Cousin oder ein Freund der Familie.« Als er sah, dass die Deputys sich augenrollend anschauten, lächelte er wieder. Es war ein zugleich erschöpftes und charmantes Lächeln. »Ja, mir ist schon klar, wie sich das anhört.«

»Wendy, wie wär’s, wenn du dich mit deinen Kollegen ins Büro von Sheriff John setzt und ihnen erzählst, was wir von Luke erfahren haben? Ich bleibe inzwischen hier.«

»Das ist auch richtig so«, sagte Tag Faraday. »Denn bis Sheriff John dir eine Dienstmarke überreicht, bist du nur der städtische Nachtklopfer.«

»Zur Kenntnis genommen«, sagte Tim.

»Was ist denn auf dem USB-Stick da?«, fragte Bill.

»Keine Ahnung. Wenn der Sheriff kommt, können wir es uns alle gemeinsam anschauen.«

Wendy ging mit den beiden Deputys ins Büro von Sheriff Ashworth und zog die Tür zu. Tim hörte murmelnde Stimmen. Normalerweise hätte er um diese Zeit geschlafen, fühlte sich jedoch wacher als seit langer Zeit. Vielleicht seit er aus der Polizei von Sarasota ausgeschieden war. Er wollte erfahren, wer der Junge hinter dieser hirnrissigen Geschichte wirklich war und was man ihm angetan hatte, und wo.

Tim ging zur Kaffeemaschine in der Ecke, um sich einen Becher Kaffee zu holen. Der war stark, aber nicht ungenießbar, was er um zehn Uhr abends sein würde, wenn Tim normalerweise auf seiner Nachtklopferrunde hereinschaute. Damit setzte er sich an den Disponententisch. Inzwischen war der Junge eingeschlafen oder schaffte es verdammt gut, so zu tun als ob. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff Tim nach dem Schnellhefter, in dem alle Geschäfte und Betriebe von DuPray aufgeführt waren, und rief im Motel an. Niemand hob ab. Offenbar war Hollister doch nicht in sein Rattenloch zurückgekehrt. Was natürlich nichts zu bedeuten hatte.

Er legte auf, zog den USB-Stick wieder aus der Brusttasche und betrachtete ihn. Der hatte höchstwahrscheinlich auch nichts zu bedeuten, aber mit derartigen Dingen musste sich, wie Tag Faraday deutlich gemacht hatte, Sheriff Ashworth beschäftigen. Das konnte warten.

Vorläufig sollte der Junge sich erst einmal ausschlafen. Falls er wirklich in einem Güterwaggon aus Maine gekommen war, hatte er das dringend nötig.

15

Gegen siebzehn Uhr fünfzehn landete die Challenger mit ihren elf Passagieren – Mrs. Sigsby, Tony Fizzale, Winona Briggs, Dr. Evans und den beiden Teams Ruby Red und Opal – in Alcolu. Zur leichteren Verständigung mit Stackhouse bezeichnete man dieses knappe Dutzend nun als Team Gold. Als Erstes verließ Mrs. Sigsby die Maschine. Denny Williams von Ruby Red und Louis Grant von Opal blieben vorerst an Bord, um sich um das ziemlich spezielle Gepäck des Teams zu kümmern. Auf dem Rollfeld blieb Mrs. Sigsby trotz der brütenden Hitze stehen und nahm ihr Handy heraus, um das Festnetztelefon in ihrem Büro anzurufen. Rosalind nahm ab und stellte sie sogleich zu Stackhouse durch.

»Haben Sie…«, fing sie an, pausierte dann jedoch, um den Piloten und den Kopiloten vorübergehen zu lassen, was die beiden wortlos taten. Der eine war früher bei der Air Force gewesen, der andere bei der Air National Guard, und beide waren wie die Nazi-Wachen in der alten Sitcom Ein Käfig voller Helden; sie sahen und sie hörten nichts. Ihre Aufgabe beschränkte sich strikt darauf, ihre Passagiere zu transportieren.

Sobald sie fort waren, erkundigte sich Mrs. Sigsby bei Stackhouse, ob er irgendetwas von dem Zuträger in DuPray gehört habe.

»Das habe ich tatsächlich. Ellis hat sich ein Wehwehchen zugezogen, als er vom Zug gesprungen ist. Ist mit dem Kopf gegen einen Signalpfosten geknallt. Ein sofortiger Tod durch eine Hirnblutung hätte unsere Probleme weitgehend gelöst, aber dieser Hollister sagt, der Kleine war nicht mal bewusstlos. Ein Gabelstaplerfahrer hat ihn gesehen, in ein Lagerhaus beim Bahnhof gebracht und den örtlichen Quacksalber gerufen. Der ist gekommen. Etwas später ist eine Polizistin aufgetaucht, die unseren Jungen gemeinsam mit dem Gabelstaplertypen zum Büro vom Sheriff geschafft hat. Das Ohr, in dem der Chip gesteckt hat, war bandagiert.«