»Anders gesagt, ihr habt nicht alle Tassen im Schrank«, sagte Tony, was wieder mit dem speziellen nervösen Gelächter quittiert wurde.
»Wir schlendern die Straße entlang, um die Umgebung zu erkunden…«
»Wobei wir Händchen halten, weil wir echte Turteltäubchen sind«, sagte Michelle Robertson, nahm Denny bei der Hand und schenkte ihm ein schüchternes, aber bewunderndes Lächeln.
»Soll nicht lieber unser Mann vor Ort die Lage checken?«, sagte Louis Grant. »Wäre das nicht sicherer?«
»Den kennen wir nicht persönlich, also können wir ihm nicht vertrauen«, sagte Denny. »Außerdem ist er Zivilist.«
Er warf einen Blick auf Mrs. Sigsby, die ihm zunickte.
»Vielleicht gehen wir in die Polizeistation, um uns nach dem Weg zu erkundigen. Vielleicht auch nicht. Das werden wir spontan entscheiden. Auf jeden Fall wollen wir herausfinden, wie viele Beamte vor Ort sind und wo sie sich genau aufhalten. Dann…« Er zuckte die Achseln. »Wir liquidieren sie. Falls es zu einem Schusswechsel kommen sollte, was ich nicht erwarte, liquidieren wir auch den Jungen. Falls nicht, nehmen wir ihn mit. Es gibt anschließend weniger Scherereien, wenn es nach einer Entführung aussieht.«
Mrs. Sigsby überließ es Denny, die anderen zu informieren, wo die Challenger sie wieder erwarten würde, und rief Stackhouse an, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen.
»Hab gerade mit unserem Freund Hollister telefoniert«, sagte er. »Vor ungefähr fünf Minuten ist der Sheriff eingetroffen. Inzwischen stellt man ihn sicher gerade unserem entlaufenen Schützling vor. Das heißt, Sie sollten sich beeilen.«
»Ja.« Sie spürte, wie sich in Unterbauch und Leistengegend eine nicht unangenehme Spannung aufbaute. »Ich rufe an, sobald es vorüber ist.«
»Na, dann los, Julia. Befreien Sie uns aus diesem Schlamassel.«
Sie legte auf.
17
Sheriff John Ashworth kehrte gegen achtzehn Uhr zwanzig nach DuPray zurück. Vierzehnhundert Meilen weiter nördlich deponierte eine kleine Schar von benommenen Kindern Zigaretten und Streichholzschachteln in Körben und betrat im Gänsemarsch einen Vorführraum. Der Star des an diesem Abend gezeigten Films würde ein Megakirchenpastor aus Indiana mit vielen mächtigen politischen Freunden sein.
Der Sheriff blieb in der Tür stehen und betrachtete das große Dienstzimmer der Polizeistation mit den Händen auf den gut gepolsterten Hüften. Wie er feststellte, war sein gesamtes Personal anwesend, mit Ausnahme von Ronnie Gibson, die derzeit in der Ferienwohnung ihrer Mutter in St. Petersburg Urlaub machte. Tim Jamieson war ebenfalls da.
»’n Abend alle miteinander«, sagte er. »Um eine Überraschungsparty kann sich’s wohl nicht handeln, schließlich hab ich heute nicht Geburtstag. Und wer ist das da?« Er deutete auf den Jungen, der auf dem kleinen Sofa im Wartebereich lag. Luke hatte sich so weit zusammengerollt, wie es ging. Der Sheriff wandte sich an Tag Faraday, den ihn vertretenden Deputy. »Und außerdem, nur so ganz nebenbei, wer von euch hat ihn verprügelt?«
Anstatt zu antworten, wandte Faraday sich an Tim und machte eine Handbewegung, die nach dir heißen sollte.
»Sein Name ist Luke Ellis, und niemand hier hat ihn verprügelt«, sagte Tim. »Er ist von einem Güterzug gesprungen und gegen einen Signalpfosten geknallt. Daher der Bluterguss. Was den Verband angeht, behauptet er, man hätte ihn gekidnappt und ihm einen Ortungsclip ins Ohr eingepflanzt. Er sagt, er hat sich das Ohrläppchen abgeschnitten, um den loszuwerden.«
»Mit einem Schälmesser«, ergänzte Wendy.
»Seine Eltern sind tot«, sagte Tag Faraday. »Ermordet. So weit stimmt seine Geschichte. Ich hab es überprüft. Gewohnt haben die weit weg in Minnesota.«
»Aber er sagt, der Ort, von dem er abgehauen ist, wäre in Maine«, sagte Bill Wicklow.
Der Sheriff schwieg einen Moment. Die Hände weiterhin in die Hüften gestützt, ließ er den Blick über seine Deputys und seinen Nachtklopfer zu dem Jungen wandern, der auf dem Sofa lag. Die Unterhaltung hatte sichtlich keine Wirkung auf Luke, der schlief wie ein Toter. Schließlich richtete Sheriff John den Blick wieder auf seine versammelte Mannschaft. »Mir wär’s allmählich lieber, ich wär zum Essen bei meiner Mutter geblieben.«
»Ach, der ging’s heute wohl nicht gut?«, fragte Bill.
Das ignorierte Sheriff John. »Könntet ihr mir jetzt mal zusammenhängend Bericht erstatten… Vorausgesetzt, ihr habt euch nicht alle einen Joint reingezogen.«
»Setzen Sie sich«, sagte Tim. »Ich erkläre Ihnen, was Sache ist, und dann sollten wir uns wohl das da anschauen.« Er legte den USB-Stick auf den Disponententisch. »Anschließend können Sie entscheiden, wie es weitergeht.«
»Vielleicht sollten Sie bei der Polizei in Minneapolis oder der State Police drüben in Charleston anrufen«, sagte Deputy Burkett. »Oder bei beiden.« Er deutete mit dem Kinn auf Luke. »Um denen die Entscheidung zu überlassen, was mit ihm geschieht.«
Der Sheriff setzte sich hin. »Wenn ich’s mir recht überlege, bin ich doch froh, dass ich früher zurückgekommen bin. Die Sache ist irgendwie interessant, meint ihr nicht auch?«
»Sehr interessant sogar«, sagte Wendy.
»Was gar nicht schlecht ist. Normalerweise passiert hier bekanntlich nicht viel, da können wir ein bisschen Abwechslung gebrauchen. Glauben die Kollegen in Minneapolis denn, dass er seine Eltern umgebracht hat?«
»So hört es sich nach den Zeitungsberichten an«, sagte Tag Faraday. »Obwohl die ziemlich zurückhaltend sind, schließlich ist er minderjährig.«
»Er ist furchtbar intelligent«, sagte Wendy. »Aber sonst scheint er ein nettes Kind zu sein.«
»Mhm, mhm, ob er nett ist oder nicht, wird jemand anderes entscheiden müssen, aber vorläufig bin ich einfach neugierig. Bill, hören Sie auf, an der Kontrolluhr rumzufummeln, sonst geht die noch kaputt, und holen Sie mir ’ne Dose Cola aus meinem Büro.«
18
Während Tim die Geschichte, die Luke ihm und Wendy erzählt hatte, an Sheriff Ashworth weitergab und Team Gold sich auf der I-95 der Ausfahrt Hardeeville näherte, von wo es nicht weit zu der kleinen Stadt DuPray war, trieb Nick Wilholm die Kinder, die im Vorführraum geblieben waren, in den kleinen Aufenthaltsraum vom Hinterbau.
Manchmal hielt jemand erstaunlich lange durch; ein Beispiel dafür war George Iles. In anderen Fällen kam es urplötzlich zu einem Zusammenbruch, was offenbar gerade mit Iris Stanhope geschah. Das, was die Kids im Hinterbau als Auszeit bezeichneten – das kurze Nachlassen der Kopfschmerzen nach einem Film–, war bei ihr diesmal nicht eingetreten. Ihre Augen waren leer, ihre Kinnlade hing herunter. Mit gesenktem Kopf und in die Augen fallenden Haaren lehnte sie an der Wand des Aufenthaltsraums. Helen ging zu ihr und legte den Arm um sie, was sie jedoch nicht zu bemerken schien.
»Was sollen wir hier?«, fragte Donna. »Ich will in mein Zimmer. Schlafen gehen. Ich hasse diese Filme.« Ihrer mürrischen Stimme war anzuhören, dass sie den Tränen nahe war, aber immerhin war sie noch wach und zugänglich. Dasselbe galt für Jimmy und Hal. Beide blickten benommen drein, aber nicht regelrecht betäubt wie Iris.
Es wird keine Filme mehr geben, sagte Avery. Nie wieder.
Seine Stimme erscholl in Kalishas Kopf lauter denn je, was sie fast als Beweis empfand – gemeinsam waren sie tatsächlich stärker.
»Eine kühne Prognose«, sagte Nicky. »Vor allem, weil sie von einem kleinen Scheißer wie dir kommt, Avester.«
Darüber grinsten Hal und Jimmy, Katie kicherte sogar. Nur Iris wirkte nach wie vor völlig abwesend. Jetzt kratzte sie sich unverhohlen im Schritt. Len war vom Fernseher abgelenkt, obwohl auf dem gar nichts lief. Vielleicht, dachte Kalisha, betrachtet er ja sein Spiegelbild.