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Tim stellte den Kuchen auf den Tisch. »Was ist denn, Kalisha? Die beiden wissen sicher Bescheid, ich aber nicht. Hilf mir mal auf die Sprünge.«

»Was ist, wenn er recht hat? Was ist, wenn der Mann recht hat und Luke falsch liegt? Was ist, wenn die Welt in drei Jahren untergeht… oder schon in drei Monaten… weil wir nicht da sind, um sie zu beschützen?«

»Ich liege aber nicht falsch«, sagte Luke. »Mag sein, dass die Mathematiker haben, aber ich bin besser als die. Das ist keine Angeberei, sondern Fakt. Und das, was er über mich gesagt hat? Das mit dem magischen Denken? Dem hängen die nämlich auch an. Sie ertragen die Vorstellung nicht, sich möglicherweise zu irren.«

»Aber du bist dir gar nicht sicher!«, rief Kalisha. »Das kann ich in deinem Kopf hören, Lukey, du bist dir einfach nicht sicher!«

Anstatt das zu leugnen, starrte Luke nur auf seinen Teller.

Kalisha sah zu Tim hoch. »Was ist, wenn die auch nur ein einziges Mal recht haben? Dann sind wir schuld!«

Tim zögerte. Er scheute sich vor der Vorstellung, dass das, was er jetzt sagte, einen entscheidenden Einfluss darauf haben könnte, wie dieses Mädchen ihr restliches Leben verbrachte. Diese Verantwortung wollte er auf keinen Fall übernehmen, fürchtete jedoch, sie sowieso zu haben. Auch die beiden Jungen hörten aufmerksam zu. Sie hörten zu und warteten. Er besaß zwar keine paranormalen Kräfte, aber über eine Kraft verfügte er: Er war der Erwachsene. Die Kinder wollten von ihm hören, dass kein Monster unter dem Bett lauerte.

»Nein, du bist nicht schuld. Keiner von euch ist schuld. Dieser Mann war nicht hier, um euch davor zu warnen, etwas zu verraten, er wollte euer Leben vergiften. Lass nicht zu, dass ihm das gelingt, Kalisha. Das gilt für euch alle. Als Spezies sind wir Menschen darauf ausgerichtet, ein Ziel über alle anderen zu stellen, und das habt ihr getan.«

Er streckte beide Hände aus und wischte Kalisha die Tränen von den Wangen.

»Ihr habt überlebt. Ihr habt eure Liebe und euren Verstand eingesetzt, und ihr habt überlebt. Und jetzt machen wir uns über den Kuchen her!«

3

Als der Freitag kam, war Nicky an der Reihe abzureisen.

Tim und Wendy standen neben Luke und sahen zu, wie Nicky und Kalisha die Zufahrt hinuntergingen, die Arme umeinandergelegt. Wendy würde Nicky zum Busbahnhof in Brunswick fahren, aber die drei hier oben wussten, dass die beiden da unten zuerst ein bisschen Zeit zusammen brauchten – und verdienten. Um adieu zu sagen.

»Gehen wir es noch mal durch«, hatte Tim eine Stunde zuvor gesagt, nach dem Mittagessen, bei dem weder Nicky noch Kalisha richtig zugegriffen hatten. Tim war mit Nicky auf die hintere Veranda getreten, während Luke und Kalisha die paar Teller spülten.

»Nicht nötig«, sagte Nicky. »Ich hab’s gecheckt, Mann. Echt.«

»Trotzdem«, sagte Tim. »Weil es wichtig ist. Von Brunswick fährst du nach Chicago, richtig?«

»Richtig. Der Bus fährt heute Abend um Viertel nach sieben ab.«

»Mit wem unterhältst du dich im Bus?«

»Mit niemand. Um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.«

»Und wenn du ankommst?«

»Dann rufe ich vom Navy Pier aus meinen Onkel Fred an. Weil die Kidnapper mich da abgesetzt haben. Am selben Ort, wo George und Helen gelandet sind.«

»Aber das weißt du nicht.«

»Natürlich nicht.«

»Kennst du George und Helen?«

»Noch nie von denen gehört.«

»Und wer sind die Leute, die dich gekidnappt haben?«

»Keine Ahnung.«

»Was wollten sie von dir?«

»Das weiß ich nicht. Es ist völlig mysteriös. Sie haben mich nicht sexuell belästigt, sie haben mir keine Fragen gestellt, ich hab keine Stimmen von anderen Kids gehört und hab keinen blassen Schimmer. Wenn die Polizei mich befragt, werde ich dem absolut nichts hinzufügen.«

»Sehr gut.«

»Irgendwann werden die Cops aufgeben, und dann komme ich nach Nevada, wo ich glücklich bei meinem Onkel, meiner Tante und Bobby leben werde.« Bobby war Nickys Bruder, der in der Nacht der Entführung bei einem Freund übernachtet hatte.

»Und wenn du erfährst, dass deine Eltern tot sind?«

»Das ist mir völlig neu. Mach dir keine Sorgen, ich werde losheulen. Das wird mir nicht schwerfallen, und gespielt wird es auch nicht sein, das kannst du mir glauben. Sind wir jetzt fertig?«

»Beinahe. Lass erst mal deine Fäuste locker. Die am Ende von deinen Armen und die in deinem Kopf. Gib dem Leben da oben in Nevada eine Chance.«

»Das ist nicht so leicht, Mann.« In Nickys Augen glänzten Tränen. »Ganz und gar nicht.«

»Ich weiß«, sagte Tim und wagte eine Umarmung.

Die ließ Nicky zuerst passiv zu, dann erwiderte er sie. Ganz fest. Das ist schon mal ein Anfang, dachte Tim. Der Junge würde dichthalten, egal wie viele Fragen die Polizei auf ihn abfeuerte und egal wie oft man ihm sagte, das alles sei doch völlig unglaubwürdig.

Mehr Sorgen machte Tim sich, dass George Iles etwas ausplauderte, schließlich war der ein klassisches Plappermaul und ein geborener Fabulierer. Trotzdem dachte – hoffte – Tim, dass es ihm schließlich doch gelungen war, George etwas klarzumachen: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Jetzt umarmten sich Nicky und Kalisha neben dem Briefkasten am Ende der Zufahrt, wo Mr. Smith mit seiner lispelnden Stimme versucht hatte, Schuldgefühle in Kindern zu wecken, die nur um ihr Überleben gekämpft hatten.

»Er hat sie wirklich gern«, sagte Luke.

Ja, dachte Tim, und das hast du auch.

Aber Luke war nicht der erste Junge, der sich in einer Liebesbeziehung als drittes Rad am Wagen fühlte, und er würde nicht der letzte sein. War Liebesbeziehung überhaupt das richtige Wort? Luke war hochintelligent, aber erst zwölf Jahre alt. Seine Gefühle für Kalisha würden vorübergehen wie ein Fieber, obwohl es nutzlos gewesen wäre, ihm das jetzt zu sagen. Aber er würde sich daran erinnern, genau wie Tim sich an das Mädchen erinnerte, nach der er mit zwölf verrückt gewesen war (sie war sechzehn gewesen und absolut unerreichbar). Und wie Kalisha sich an Nicky erinnern würde, den hübschen Jungen, der im Institut Widerstand geleistet hatte.

»Dich hat sie auch gern«, sagte Wendy leise und drückte Luke ganz leicht den sonnenverbrannten Nacken.

»Aber nicht so wie ihn«, sagte Luke verdrießlich, doch dann lächelte er. »Ach, was soll’s, das Leben geht weiter.«

»Hol jetzt mal lieber den Wagen«, sagte Tim zu Wendy. »Der Bus wartet nicht.«

Sie tat wie geheißen. Luke fuhr mit ihr zum Briefkasten hinunter, wo er sich neben Kalisha stellte. Beide winkten, als der Wagen davonfuhr. Nicky streckte die Hand aus dem Fenster und winkte ebenfalls. Dann war er fort. In seiner rechten Hosentasche – an die ein Taschendieb im Busbahnhof am schlechtesten herankam – steckten siebzig Dollar in bar und eine Telefonkarte. In seinem Schuh lag ein Schlüssel.

Luke und Kalisha kamen gemeinsam die Zufahrt entlang. Auf halbem Wege schlug Kalisha die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Tim wollte zu ihr gehen, überlegte es sich jedoch anders. Das war die Aufgabe von Luke, und der erfüllte sie, indem er die Arme um Kalisha legte. Weil die größer war als er, lehnte sie sich auf seinen Kopf anstatt an seine Schulter.

Tim hörte das Summen, das jetzt nur noch ein leises Flüstern war. Die beiden unterhielten sich, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten, und das war in Ordnung so. Es war nicht für ihn bestimmt.