Weitere farbige Punkte. Jetzt waren sie nicht mehr nur auf der Leinwand, sondern auch an den Wänden; sie wirbelten über die Zimmerdecke, überall um ihn herum, sogar in ihm. In den letzten Sekunden, bevor Luke bewusstlos wurde, hatte er den Eindruck, dass sie sein Gehirn ersetzten. Er sah seine Hände zwischen den Punkten nach oben fliegen, sah die Punkte hüpfend über seine Haut rasen, wurde sich bewusst, dass er im Sessel von einer Seite zur anderen zuckte.
Ich habe einen Krampfanfall, wollt ihr mich etwa umbringen? Das versuchte er zu sagen, aus seinem Mund kam jedoch nur ein klägliches kleines Gurgeln. Dann waren die Punkte verschwunden, er stürzte aus dem Sessel, stürzte in die Dunkelheit, und das war eine Erleichterung. O Gott, was für eine Erleichterung.
14
Eine Reihe Ohrfeigen weckte ihn aus der Bewusstlosigkeit. Es waren keine harten Schläge, ganz im Gegensatz zu dem, von dem ihm vorhin die Nase geblutet hatte (falls das tatsächlich passiert war), aber als liebevoll gingen diese Klapse auch nicht durch. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass er auf dem Boden lag, und zwar in einem anderen Raum als vorher. Neben ihm hatte Priscilla sich auf ein Knie niedergelassen. Von ihr stammten also die Ohrfeigen. Brandon und die beiden Ärzte standen daneben und beobachteten die Prozedur. Hendricks hatte immer noch sein I-Pad in den Händen, Evans sein Klemmbrett.
»Er ist wach«, sagte Priscilla. »Kannst du aufstehen, Luke?«
Luke wusste nicht, ob er das konnte oder nicht. Vor vier oder fünf Jahren hatte er eine Halsentzündung mit hohem Fieber gehabt. Jetzt fühlte er sich wie damals, so als ob die Hälfte von ihm aus seinem Körper in die Luft geglitten wäre. Er hatte einen fauligen Geschmack im Mund, und die neueste Einstichstelle juckte wie verrückt. Noch immer spürte er, wie seine Kehle zugeschwollen war und wie grässlich sich das angefühlt hatte.
Brandon ließ ihm keine Chance, seine Standfestigkeit zu testen, er packte ihn einfach am Arm und zerrte ihn auf die Beine. Schwankend stand Luke da.
»Wie heißt du?«, fragte Hendricks.
»Luke… Lucas… Ellis.« Die Wörter schienen nicht aus seinem Mund zu kommen, sondern von der losgelösten Hälfte von ihm, die über seinem Kopf schwebte. Er war erschöpft. Sein Gesicht pochte von den wiederholten Schlägen, und die Nase tat ihm weh. Er hob die Hand (sie stieg langsam nach oben wie durch Wasser hindurch), rieb an der Haut über seiner Oberlippe und betrachtete dann ohne Überraschung die Spuren von getrocknetem Blut an seinem Zeigefinger. »Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte er.
»Setzt ihn hin«, sagte Hendricks.
Brandon ergriff ihn an einem Arm, Priscilla am anderen. So führten sie ihn zu einem Stuhl (einem einfachen Küchenstuhl ohne Riemen zum Anschnallen, Gott sei Dank), der an einem Tisch stand. Evans ließ sich ihm gegenüber auf einem weiteren Küchenstuhl nieder. Vor sich hatte der Arzt einen Stapel Spielkarten liegen. Sie waren so groß wie Taschenbücher und hatten eine schlichte blaue Rückseite.
»Ich will wieder in mein Zimmer«, sagte Luke. Noch immer schien seine Stimme nicht aus seinem Mund zu kommen, aber immerhin war sie jetzt ein bisschen näher. Eventuell. »Ich will mich hinlegen. Mir ist übel.«
»Deine Desorientiertheit wird vorübergehen«, sagte Hendricks. »Allerdings könnte es klug sein, aufs Abendessen zu verzichten. Jetzt will ich erst einmal, dass du dich auf Dr. Evans konzentrierst. Wir haben einen kleinen Test für dich. Sobald der fertig ist, darfst du wieder in dein Zimmer, um dich zu… äh… entspannen.«
Evans griff nach der ersten Karte und betrachtete sie. »Was ist das?«, fragte er.
»Eine Karte«, sagte Luke.
»Spar dir die Scherze für deinen Youtube-Kanal auf«, sagte Priscilla und versetzte ihm eine Ohrfeige. Die war wesentlich härter als die Klapse, mit denen sie ihn aufgeweckt hatte.
In seinem Ohr klingelte es, aber wenigstens fühlte er sich ein bisschen klarer im Kopf. Er blickte zu Priscilla hoch und sah keinerlei Zögern. Kein Bedauern. Null Empathie. Nichts. Ihm wurde klar, dass er für sie kein Kind war. Sie hatte in ihrem Kopf eine entscheidende Trennung vorgenommen. Er war eine Testperson. So eine Person zwang man, das zu tun, was man von ihr wollte, und wenn sie das nicht tat, bediente man sich einer Methode, die in der Psychologie als negative Verstärkung bezeichnet wurde. Und wenn die Tests vorüber waren? Dann ging man in den Pausenraum, um sich bei einem Kaffee und einem Stück Gebäck über die eigenen Kinder zu unterhalten (die echte Kinder waren) oder um über Politik, Sport oder wer weiß was zu lästern.
Aber hatte er das nicht bereits gewusst? Wahrscheinlich schon, aber etwas zu wissen war etwas anderes, als es schmerzhaft auf der Haut zu spüren. Luke sah in nicht allzu ferner Zukunft einen Zeitpunkt kommen, an dem er jedes Mal zusammenzuckte, wenn jemand ihm gegenüber die geöffnete Hand hob, selbst wenn das nur geschah, um ihm die Hand zu schütteln oder ihn abzuklatschen.
Evans legte die Karte sorgfältig beiseite und nahm eine andere vom Stapel. »Wie steht es mit der hier, Luke?«
»Ich hab doch schon gesagt, das weiß ich nicht! Wie kann ich wissen, was…«
Priscilla schlug wieder zu. Jetzt klingelte es ihm stärker im Ohr, und er begann zu weinen. Dagegen konnte er nichts machen. Er hatte gedacht, das Institut wäre ein Albtraum, aber der wahre Albtraum bestand darin, sich nur halb im eigenen Körper zu befinden und gefragt zu werden, was sich auf Karten befand, die er nicht sehen konnte. Und dann geschlagen zu werden, wenn er sagte, dass er es nicht wusste.
»Versuch es, Luke«, sagte Hendricks ihm in das Ohr, in dem es nicht klingelte.
»Ich will in mein Zimmer. Ich bin müde. Und mir ist übel.«
Evans legte die zweite Karte weg und griff nach einer dritten. »Was ist da drauf?«
»Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte Luke. »Ich bin TK, nicht TP. Vielleicht könnte Kalisha Ihnen sagen, was auf den Karten ist, und Avery könnte das bestimmt, aber ich bin nicht TP!«
Evans hob die vierte Karte auf. »Was ist da drauf? Jetzt gibt’s keine Schläge mehr. Sag’s mir, sonst wird Brandon dich mit seinem Schockstock traktieren, und das wird wehtun. Wahrscheinlich würde das keinen weiteren Krampfanfall auslösen, aber vielleicht doch, also sag es mir, Luke, was ist da drauf?«
»Die Brooklyn Bridge!«, brüllte Luke. »Der Eiffelturm. Brad Pitt in einem Smoking, ein Hund, der kackt, die Indy 500, ich weiß es nicht!«
Er wartete auf den Schockstock, bei dem es sich um eine Art Taser handeln musste. Vielleicht würde das Ding knistern, vielleicht ein Summen von sich geben. Vielleicht würde es auch gar kein Geräusch machen, und er würde einfach zusammenzucken und auf den Boden stürzen, zappelnd und sabbernd. Stattdessen legte Evans die Karte weg und wies Brandon mit einer Handbewegung an, zur Seite zu treten. Luke empfand keinerlei Erleichterung.
Ich wünschte, ich wäre tot, dachte er. Tot, dann wäre das zu Ende.
»Priscilla«, sagte Hendricks. »Bringen Sie Luke in sein Zimmer zurück.«
»Jawohl, Doktor. Brandon, hilf mir, ihn in den Aufzug zu schaffen.«
Als sie dort ankamen, fühlte Luke sich wieder einigermaßen vollständig und konnte klare Gedanken fassen. Hatten die den Projektor wirklich ausgeschaltet? Und hatte er trotzdem weiterhin die blitzenden Punkte gesehen?
»Das war ein Irrtum.« Er spürte, dass sein Mund und Hals ganz trocken waren. »Ich bin nicht, was ihr hier als TP bezeichnet. Das wisst ihr doch, oder etwa nicht?«
»Was weiß ich«, sagte Priscilla gleichgültig. Sie sah Brandon an und hatte ein echtes Lächeln auf dem Gesicht, mit dem sie ein ganz neuer Mensch wurde. »Wir sehen uns später, ja?«