Das wusste Luke. Er hatte zwar noch nie in einer MRT-Röhre gesteckt, aber mehr als genug Arztserien gesehen. »Danke, ich verzichte.«
Nach dem Mittagessen (das von Gladys hereingebracht wurde) nahm er die Valium-Tablette aber doch, teilweise aus Neugier, hauptsächlich jedoch aus Langweile. Inzwischen war er bereits dreimal im MRT gewesen und hatte laut Dave drei weitere Besuche vor sich. Er fragte erst gar nicht, was man da testete, suchte oder zu finden hoffte. Als Antwort hätte er doch nur zu hören bekommen, dass ihn das nichts angehe. Eventuell wussten diese Typen es nicht einmal selbst.
Das Valium versetzte ihn in eine schwebende, träumerische Stimmung, und bei seinem letzten Aufenthalt in der Röhre verfiel er in ein leichtes Dösen, obwohl die Maschine laut knallte, wenn sie ihre Bilder machte. Als Winona erschien, um ihn auf die Wohnebene zurückzubringen, hatte die Wirkung des Medikaments nachgelassen, und er fühlte sich nur noch benebelt.
Winona griff in ihre Hosentasche und zog eine Handvoll Münzen heraus. Als sie sie ihm reichte, fiel eine auf den Boden und rollte davon.
»Heb sie auf, du Tollpatsch.«
Er gehorchte.
»Es war ein langer Tag für dich«, sagte sie und lächelte sogar. »Wie wär’s, wenn du dir was zu trinken besorgst? Zum Chillen und Entspannen. Ich empfehle Harveys Bristol Cream.«
Sie war Ende dreißig, Anfang vierzig, auf jeden Fall alt genug, ein Kind in Lukes Alter zu haben. Vielleicht auch zwei. Ob sie denen wohl eine ähnliche Empfehlung gegeben hätte? So nach dem Motto: Heute hattet ihr bestimmt einen harten Tag in der Schule, da solltet ihr erst mal abhängen und euch ’nen Alcopop genehmigen, bevor ihr euch an die Hausaufgaben setzt? Er überlegte, das laut zu sagen, mehr als ihm eine Ohrfeige verpassen würde sie ihm wahrscheinlich nicht, aber…
»Was würde das nützen?«
»Hä, was?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Was würde was nützen?«
»Irgendwas«, sagte er. »Was auch immer, Winnie.« Er wollte keine Flasche Harveys Bristol Cream oder Twisted Tea oder gar Stump Jump Grenache, ein Name, an den John Keats hätte denken können, als er schrieb, etwas werde so romantisch genannt »wie jener gen Westen ziehende Mond im dahinschwindenden Band der Nacht«.
»Pass auf, dass du dir nicht das freche Maul verbrennst, Luke.«
»Ich arbeite daran.«
Er steckte sich die Münzen in die Hosentasche. Soweit er gesehen hatte, waren es neun. Drei würde er Avery schenken und je drei den beiden Wilcox-Zwillingen. Genug für ein paar Snacks, nicht genug für irgendetwas von dem anderen Zeug. Für sich selbst wollte er momentan nur eine anständige Portion Eiweiß und Kohlenhydrate. Es war ihm egal, was es zum Abendessen gab, Hauptsache, es gab eine Menge davon.
21
Am folgenden Morgen brachten Joe und Hadad ihn wieder auf Ebene C, wo man ihm befahl, eine Bariumlösung zu trinken. Tony stand mit seinem Schockstock daneben, jederzeit bereit, Luke eine Ladung zu verpassen, wenn er irgendeinen Widerspruch äußerte. Sobald Luke den Becher vollständig geleert hatte, führte man ihn in eine Kabine, die etwa so groß war wie die in einem Raststättenklo. Dort machte man ein Röntgenbild. Das klappte gut, doch als er die Kabine verließ, bekam er einen Krampf und krümmte sich vor Schmerzen.
»Kotz bloß nicht auf den Boden«, sagte Tony. »Wenn’s unbedingt sein muss, nimm das Waschbecken in der Ecke.«
Zu spät. Lukes halb verdautes Frühstück kam in einem Bariumpüree zum Vorschein.
»Ach du Scheiße. Das wirst du jetzt aufwischen, und wenn du fertig bist, will ich den Boden so sauber haben, dass man davon essen kann.«
»Ich mach das schon«, sagte Hadad.
»Kommt nicht in die Tüte«, sagte Tony. Hadad zuckte zusammen, obwohl Tony ihn weder angesehen noch die Stimme erhoben hatte. »Du kannst den Mopp und den Eimer holen. Den Rest wird Luke erledigen.«
Hadad besorgte die Putzgeräte. Luke schaffte es, den Eimer am Waschbecken in der Ecke zu füllen, aber er hatte immer noch Magenkrämpfe, und seine Arme zitterten so stark, dass er das Ding nicht auf den Boden heben konnte, ohne massenhaft Seifenwasser zu verschütten. Deshalb half Joe ihm, wobei er ihm »durchhalten, Junge« ins Ohr flüsterte.
»Gib ihm einfach den Mopp«, sagte Tony, und Luke begriff – mit seiner neuen Fähigkeit, die Dinge zu begreifen–, dass der gute alte Tony das Ganze genoss.
Luke wischte und drückte den Mopp aus. Tony begutachtete seine Arbeit, bezeichnete sie als unannehmbar und befahl ihm, noch einmal von vorn anzufangen. Die Krämpfe hatten sich gelegt, weshalb er diesmal in der Lage war, den Eimer selbst hochzuheben und auf den Boden zu stellen. Hadad und Joe saßen da und debattierten über die Chancen der New York Yankees und der San Diego Padres, offenbar ihre jeweilige Lieblingsmannschaft. Auf dem Weg zurück zum Aufzug schlug Hadad ihm auf den Rücken und sagte: »Gut gemacht, Luke! Hast du ein paar Münzen für ihn, Joey? Ich bin gerade blank.«
Joe gab Luke vier davon.
»Wozu sind die Tests eigentlich gut?«, fragte Luke.
»Für so allerhand«, sagte Hadad. »Mach dir keine Sorgen darüber.«
Was, dachte Luke, womöglich der dümmste Rat war, den er jemals erhalten hatte. »Komme ich jemals hier raus?«
»Aber natürlich«, sagte Joe. »Allerdings wirst du dich dann an nichts mehr erinnern.«
Er log. Erneut war das kein Gedankenlesen, zumindest nicht so, wie Luke es sich immer vorgestellt hatte, nämlich Wörter im Kopf zu hören (oder sie zu sehen wie die am unteren Rand des Bildschirms dahinkriechende Zeile bei Nachrichtensendungen). Es war schlichtes Wissen, so unleugbar wie die Schwerkraft oder die Irrationalität der Quadratwurzel aus 2.
»Wie viele Tests wird man noch mit mir machen?«
»Ach, wir beschäftigen dich schon«, sagte Joe.
»Hauptsache, du kotzt nicht auf einen Boden, über den Tony Fizzale marschieren muss«, sagte Hadad und lachte herzhaft.
22
Als Luke in sein Zimmer kam, war eine neue Haushälterin damit beschäftigt, Staub zu saugen. JOLENE, wie sie laut ihrem Schildchen hieß, war dick und in den Zwanzigern.
»Wo ist Maureen?«, fragte Luke, obwohl er genau Bescheid wusste. Maureen hatte ihre freie Woche, und wenn sie wiederkam, arbeitete sie womöglich nicht in diesem Teil des Instituts, zumindest vorläufig nicht. Er hoffte, dass es ihr in Vermont gelang, den Mist ihres davongelaufenen Ehemanns zu beseitigen, aber er würde sie vermissen… wenngleich er sie eventuell im Hinterbau wiedersah, wenn man ihn dorthin verfrachtete.
»Mo-Mo dreht gerade einen Film mit Johnny Depp«, sagte Jolene. »Einen von diesen Piratenstreifen, die alle Kinder mögen. Sie spielt den Jolly Roger.« Sie lachte. »Warum verziehst du dich nicht woandershin, während ich hier sauber mache?«
»Weil ich mich hinlegen will. Ich fühle mich nicht gut.«
»Ach, du jemine«, sagte Jolene. »Ihr Kids seid wirklich total verwöhnt. Ihr habt jemand, der euer Zimmer putzt und euch das Essen kocht, ihr habt euren eigenen Fernseher… Meinst du etwa, ich hatte einen Fernseher in meinem Zimmer, als ich klein war? Oder mein eigenes Bad? Nein, ich hatte drei Schwestern und zwei Brüder, und wir haben uns um alles gestritten.«
»Außerdem dürfen wir Barium schlucken und dann auskotzen. Möchten Sie das vielleicht auch mal versuchen?«
Ich höre mich mit jedem Tag mehr wie Nicky an, dachte Luke, aber das kann nichts schaden, oder? Ist schließlich gut, positive Vorbilder zu haben.
Jolene drehte sich zu ihm um und schwenkte die Staubsaugerdüse. »Willst du wissen, wie es sich anfühlt, damit eins an den Schädel zu kriegen?«
Luke machte sich davon. Langsam wanderte er durch die Flure des Wohnbereichs und musste sich zweimal an die Wand lehnen, wenn er von Krämpfen gepackt wurde. Immerhin waren die jetzt weniger häufig und intensiv. Kurz vor dem nicht verwendeten Aufenthaltsraum, von dem aus man das Verwaltungsgebäude sehen konnte, trat er in ein leeres Zimmer, legte sich auf die Matratze dort und schlief ein. Als er aufwachte, erwartete er zum ersten Mal nicht, vor seinem Schlafzimmerfenster das Haus von Rolf Destin zu sehen.