Nach Lukes Meinung war das ein Schritt in genau die falsche Richtung.
23
Am nächsten Morgen bekam er eine Spritze, dann schloss man ihn an ein Herzfrequenz- und Blutdruckmessgerät an und stellte ihn auf ein Laufband. Carlos und Dave, von denen die Prozedur überwacht wurde, beschleunigten das Laufband, bis er nach Atem rang und in Gefahr war, am Ende herunterzutaumeln. Die Messergebnisse wurden auch auf dem kleinen Display des Bandes wiedergegeben, und kurz bevor Carlos das Tempo reduzierte, sah Luke, dass er hundertsiebzig Schläge pro Minute erreicht hatte.
Während er ein Glas Orangensaft trank und langsam wieder zu Atem kam, tauchte ein großer, kahlköpfiger Typ auf und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Er trug einen braunen Anzug, der teuer aussah, und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Mit dunklen Augen musterte er Luke von dessen rotem, verschwitztem Gesicht bis hinunter zu seinen neuen Sneakers. »Man hat mir gesagt, dass du dich nur langsam anpasst, junger Mann«, sagte er. »Vielleicht hat ja Nick Wilholm was damit zu tun. Den sollte nämlich niemand zum Idol machen. Du weißt doch, was das Wort bedeutet, oder? Idol, meine ich.«
»Ja.«
»Der ist aufsässig und unfreundlich zu Männern und Frauen, die nur versuchen, ihre Arbeit zu machen.«
Luke sagte nichts. Das war immer am sichersten.
»Lass dich von seiner Haltung nicht anstecken, rate ich dir. Das rate ich dir dringend. Und beschränke den Umgang mit dem Servicepersonal auf ein Minimum.«
Luke erschrak, doch dann wurde ihm klar, dass der Kahlkopf damit nicht Maureen meinte. Er sprach von Fred dem Hausmeister. Das wusste Luke mit absoluter Gewissheit, obwohl er nur ein einziges Mal mit Fred gesprochen hatte, mit Maureen hingegen mehrere Male.
»Außerdem hast du im westlichen Aufenthaltsraum und in den leeren Zimmern nichts zu suchen. Wenn du schlafen willst, tu das in deinem Zimmer. Mach dir deinen Aufenthalt so angenehm wie möglich.«
»An dem Ort hier ist nichts angenehm«, sagte Luke.
»Natürlich hast du ein Recht auf deine Meinung«, sagte der Kahlkopf. »Wie du bestimmt schon gehört hast, sind Meinungen wie Arschlöcher, jeder hat eine. Aber ich glaube, du bist so schlau zu kapieren, dass es einen großen Unterschied zwischen Dingen gibt, die nicht angenehm, und solchen, die unangenehm sind. Behalt das im Blick.«
Er ging davon.
»Wer war das?«, fragte Luke.
»Stackhouse«, sagte Carlos. »Der Sicherheitschef des Instituts. Dem solltest du nicht auf die Zehen treten.«
Dave kam mit einer Spritze auf Luke zu. »Ich muss dir noch ein bisschen Blut abzapfen. Dauert bloß eine Minute. Nimm’s wie ein guter Kumpel, ja?«
24
Auf das Laufband und die letzte Blutentnahme folgten einige Tage ohne Tests, zumindest für Luke. Er erhielt mehrere Injektionen – nach einer juckte sein ganzer Arm eine Stunde lang heftig–, aber das war alles. Die Wilcox-Zwillinge gewöhnten sich allmählich ein, vor allem nachdem Harry Cross Freundschaft mit ihnen schloss. Er war TK und prahlte damit, er könne massenhaft Sachen durch die Gegend schieben, aber Avery erklärte, das sei völliger Quatsch. »Der kann weniger als du, Luke.«
Luke verdrehte die Augen. »Sei bloß nicht allzu diplomatisch, Avery, sonst überanstrengst du dich.«
»Was heißt diplomatisch?«
»Setz eine Münze ein, und schau’s auf deinem Computer nach.«
»Es tut mir leid, Dave, aber das kann ich nicht tun«, sagte Avery mit einer erstaunlich guten Imitation der leicht unheimlichen Stimme von HAL 9000 und begann zu kichern.
Harry war nett zu Greta und Gerda, das war nicht zu leugnen. Jedes Mal wenn er die beiden sah, breitete sich auf seinem Gesicht ein großes, trotteliges Grinsen aus. Er hockte sich hin, breitete die Arme weit aus, und die Mädchen rannten auf ihn zu.
»Der fummelt doch hoffentlich nicht an ihnen rum, oder?«, fragte Nicky eines Morgens auf dem Spielplatz, als Harry die Mädchen auf dem Trampolin bewachte.
»Uuuh, ist das eklig«, sagte Helen. »Du hast zu viele Lifetime-Filme gesehen.«
»Nee«, sagte Avery, der gerade Schokobällchen futterte und davon einen braunen Schnurrbart bekommen hatte. »Der will nicht…« Er legte seine kleinen Hände an den Hintern und bewegte rhythmisch die Hüften. Avery ist ein gutes Beispiel dafür, wieso Telepathie keine gute Sache ist, dachte Luke bei diesem Anblick. Man weiß viel zu viel, und man weiß es viel zu früh.
»Uuuh«, machte Helen wieder und legte sich die Hand vor die Augen. »Das will ich absolut nicht sehen, Avester.«
»Er hatte zwei Cockerspaniels«, sagte Avery. »Zu Hause. Die Mädchen da sind sein… Wie heißt das noch?«
»Ersatz«, sagte Luke.
»Genau.«
Beim Mittagessen sagte Nicky zu Luke: »Ich weiß zwar nicht, wie Harry mit seinen Hunden umgegangen ist, aber die beiden Mädchen wickeln ihn um den Finger. Es ist, als hätte ihnen jemand eine neue Puppe geschenkt. Eine mit roten Haaren und einer Wampe. Schau dir das an!«
Die Zwillinge saßen links und rechts neben Harry und fütterten ihm stückweise Hackbraten von ihren Tellern.
»Also, ich finde das irgendwie süß«, sagte Kalisha.
Nicky schenkte ihr ein Lächeln, und zwar das, bei dem sein ganzes Gesicht aufleuchtete (heute war es mit einem blauen Auge verziert, das irgendein Mitglied des Personals ihm verpasst hatte). »Typisch Sha.«
Sie erwiderte das Lächeln, und Luke spürte ein bisschen Eifersucht. Ziemlich bescheuert unter den gegebenen Umständen… aber so war es eben.
25
Am nächsten Tag wurde Luke von Priscilla und Hadad hinunter auf Ebene E eskortiert, wo er bisher noch nicht gewesen war. Dort schloss man ihn an einen Tropf an, dessen Inhalt ihn, wie Priscilla sagte, ein bisschen entspannen würde. Stattdessen wurde er bewusstlos. Als er zitternd und nackt wieder zu sich kam, waren sein Bauch, sein rechtes Bein und die rechte Seite seines Brustkorbs mit Pflastern bandagiert. Eine ihm bislang unbekannte Ärztin – laut dem Schildchen auf ihrem weißen Kittel hieß sie RICHARDSON – beugte sich über ihn. »Wie fühlst du dich, Luke?«
»Was habt ihr mit mir gemacht?« Das versuchte er zu schreien, aber er brachte nur ein ersticktes Knurren zustande. Man hatte ihm auch noch etwas in den Schlund geschoben, wahrscheinlich einen Atemschlauch. Verspätet bedeckte er seine Genitalien mit den Händen.
»Wir haben nur ein paar Proben entnommen.« Dr. Richardson riss sich die mit einem Paisleymuster geschmückte Operationshaube vom Kopf. Zum Vorschein kam eine Flut von dunklen Haaren. »Das heißt, wir haben keine von deinen Nieren entfernt, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verhökern, falls du dir darum Sorgen machen solltest. Du wirst ein bisschen Schmerzen haben, vor allem zwischen den Rippen, aber das geht vorüber. Bis dahin kannst du das da einnehmen.« Sie reichte ihm ein nicht gekennzeichnetes Gläschen mit einigen Pillen darin.
Dr. Richardson verschwand. Zeke kam mit Lukes Klamotten herein. »Zieh dich an, sobald du das schaffst, ohne umzukippen.« Damit ließ er, rücksichtsvoll wie immer, die Sachen auf den Boden fallen.
Nach einer Weile war Luke in der Lage, alles aufzuheben und sich anzuziehen. Priscilla – diesmal in Gesellschaft von Gladys – begleitete ihn auf die Wohnebene. Als man ihn nach unten gebracht hatte, war es Tag gewesen, doch jetzt war es dunkel. Womöglich schon spät nachts, aber das konnte er nicht beurteilen, sein Zeitgefühl war völlig durcheinander.