»Kannst du alleine zu deinem Zimmer gehen?«, fragte Gladys. Ohne breites Lächeln, vielleicht hatte das in der Nachtschicht frei.
»Klar.«
»Dann mach dich auf die Socken. Nimm eine von den Tabletten da. Das ist Oxycodon. Wirkt gegen Schmerzen und sorgt außerdem für ein gutes Gefühl. Als Dreingabe. Morgen früh geht’s dir wieder prima.«
Er ging den Flur entlang, griff nach dem Türknauf seines Zimmers und hielt inne. Da weinte jemand, irgendwo in der Nähe dieses dämlichen Paradiestagposters, was bedeutete, dass es wahrscheinlich aus dem Zimmer von Kalisha kam. Er debattierte einen Moment mit sich, weil er eigentlich nicht wissen wollte, weshalb sie weinte, und sich erst recht nicht in der Lage fühlte, jemand zu trösten. Aber da ausgerechnet sie es war, ging er zu ihrer Tür und klopfte leise. Als keine Antwort kam, drehte er den Knauf und steckte den Kopf ins Zimmer. »Kalisha?«
Sie lag auf dem Rücken und hatte die Hand über die Augen gelegt. »Geh weg, Luke. Ich will nicht, dass du mich so siehst.«
Fast hätte er getan, worum sie ihn bat, aber das war nicht das, was sie wollte. Anstatt zu gehen, trat er deshalb ins Zimmer und setzte sich neben sie. »Was hast du denn?«
Aber auch das wusste er. Nur ohne die Einzelheiten.
26
Die Kinder waren draußen auf dem Spielplatz gewesen – alle außer Luke, der bewusstlos unten auf Ebene E lag, während Dr. Richardson ihm irgendwelche Proben entnahm. Da waren zwei Männer aus dem Aufenthaltsraum gekommen. Sie trugen rote Krankenhausuniformen anstatt rosa und blaue wie die Pfleger und MTAs im Vorderbau, und auf ihren Shirts waren keine Namensschildchen. Die drei Veteranen – Kalisha, Nicky und George – wussten, was das bedeutete.
»Ich war mir sicher, dass sie wegen mir gekommen sind«, sagte Kalisha zu Luke. »Schließlich bin ich am längsten hier, und sie haben seit mindestens zehn Tagen keine Tests mehr an mir gemacht, obwohl ich die Windpocken hinter mir hab. Nicht mal Blut haben sie mir abgezapft, und du weißt ja, wie geil diese verdammten Vampire darauf sind. Aber sie sind wegen Nicky gekommen. Wegen Nicky!«
Dass ihre Stimme brach, als sie das sagte, machte Luke traurig, weil er ziemlich verrückt nach ihr war, aber es überraschte ihn nicht. Nick Wilholm hätte die Rolle des attraktiven, rebellischen Helden in einem von diesen dystopischen Teenagerstreifen spielen können. Sobald er in Sicht kam, hatte Helen sich jedes Mal wie eine Kompassnadel in seine Richtung gedreht, Iris ebenso; selbst die Zwillinge hatten ihn mit offenem Mund und leuchtenden Augen begafft. Kalisha aber war am längsten mit ihm zusammen gewesen, die beiden waren die wahren Veteranen des Instituts und außerdem etwa gleich alt. Als Paar waren sie zumindest denkbar.
»Er hat sich gewehrt«, sagte Kalisha. »Hat ihnen einen harten Kampf geliefert.« Sie setzte sich so plötzlich auf, dass sie Luke fast vom Bett gestoßen hätte. Ihre Lippen waren so angespannt, dass man die Zähne sah, und über der Andeutung ihrer Brüste ballte sie die Hände.
»Ich hätte auch mit ihnen kämpfen sollen! Das hätten wir alle tun sollen!«
»Aber es ist zu schnell passiert, stimmt’s?«
»Einen von denen hat Nicky hoch oben mit der Faust erwischt, am Hals, aber da hat der andere ihm ’nen Elektroschock an die Hüfte verpasst. Das hat ihm wohl das Bein gelähmt, aber er hat sich an einem Seil vom Seilgarten festgehalten, um nicht hinzufallen, und dann hat er mit seinem guten Bein nach dem Dreckskerl getreten, bevor der ihn noch mal mit seinem Schockstock treffen konnte.«
»Er hat ihm das Ding aus der Hand gekickt«, sagte Luke. Das konnte er sehen, doch es auszusprechen war ein Fehler, denn es verriet etwas, was Kalisha nicht wissen sollte. Glücklicherweise schien es ihr nicht aufzufallen.
»Genau. Aber da hat der andere, den er am Hals erwischt hatte, seinen Stock auf Nicky gerichtet. Das verdammte Ding war bestimmt bis zum Anschlag hochgedreht, weil ich es knistern gehört hab, obwohl ich ziemlich weit weg auf dem Shuffleboard-Feld war. Nicky ist hingefallen, und da haben sie sich über ihn gebeugt und ihm noch einen Schock verpasst. Er ist zusammengezuckt. Obwohl er bewusstlos dalag, ist er zusammengezuckt! Helen ist hingerannt und hat gebrüllt: ›Ihr bringt ihn um, ihr bringt ihn um‹, aber einer von den beiden hat sie ganz oben ans Bein getreten und dabei hai gemacht wie beim Karate. Als Helen weinend hingefallen ist, hat er gelacht, und dann haben sie Nicky aufgehoben und weggetragen. Aber bevor sie ihn durch die Tür geschafft haben…«
Sie unterbrach sich. Luke wartete. Er wusste, was als Nächstes geschehen war, es war eine seiner neuen Ahnungen, die mehr als eine Ahnung waren, aber er musste es Kalisha selbst sagen lassen. Weil sie nicht wissen durfte, was er jetzt war; das durfte niemand wissen.
»Er ist wieder ein bisschen zu sich gekommen«, sagte sie. An ihren Wangen kullerten Tränen herab. »So weit, dass er uns gesehen hat. Er hat gelächelt und gewinkt. Er hat gewinkt. So tapfer war er.«
»Ja«, sagte Luke. Sie hatte war statt ist gesagt, und er dachte: Und wir werden ihn nie wiedersehen.
Sie packte ihn am Nacken und zog seinen Kopf so unerwartet und heftig zu sich heran, dass er mit der Stirn an ihre knallte. »Das darfst du nicht sagen!«
»Tut mir leid«, sagte Luke und fragte sich, was sie sonst noch in seinem Kopf gesehen hatte. Hoffentlich nicht besonders viel. Hoffentlich war sie zu durcheinander, weil die zwei rot gekleideten Typen Nicky in den Hinterbau geschafft hatten. Was sie als Nächstes sagte, beruhigte ihn einigermaßen.
»Haben sie bei dir etwa Proben entnommen? Das haben sie, oder? Du hast überall Pflaster.«
»Ja, haben sie.«
»Das war dieses schwarzhaarige Biest, stimmt’s? Richardson. Wie viele?«
»Drei. Eine aus meinem Arm, eine aus dem Bauch, eine zwischen den Rippen. Da tut es am meisten weh.«
Sie nickte. »Mir haben sie was aus der rechten Brust entnommen, wie bei ’ner Biopsie. Hat total wehgetan. Bloß was ist, wenn sie gar nichts rausnehmen? Was ist, wenn sie was reintun? Sie behaupten zwar, dass sie Proben entnehmen, aber sie lügen uns doch ständig an!«
»Du meinst, noch irgendwas, um uns zu orten? Wieso sollten sie das tun, wo wir doch schon die Dinger da drin haben?« Er betastete den Chip an seinem Ohrläppchen. Der tat nicht mehr weh, war jetzt einfach ein Teil von ihm.
»Keine Ahnung«, sagte sie kläglich.
Luke griff in seine Hosentasche und zog das Pillengläschen hervor. »Die Pillen hat man mir gegeben. Vielleicht solltest du eine nehmen. Ich glaube, das wird dich beruhigen. Die helfen beim Einschlafen.«
»Oxys?«
Er nickte.
Sie griff nach dem Gläschen, dann zog sie die Hand zurück. »Das Problem ist, dass ich nicht eine haben will und auch nicht zwei. Ich will sie alle. Aber ich glaube, ich sollte fühlen, was ich gerade fühle. Ich glaube, das ist richtig so, meinst du nicht auch?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Luke, was die Wahrheit war. Das war eine schwerwiegende Frage, und so schlau er auch war, er war erst zwölf.
»Geh jetzt, Luke. Ich muss heute Nacht alleine traurig sein.«
»Okay.«
»Morgen geht’s mir bestimmt besser. Und wenn sie mich als Nächstes holen…«
»Das werden sie schon nicht.« Was eine ziemlich dämliche Behauptung war. Schließlich war Kalisha fällig. Überfällig sogar.
»Falls sie es doch tun, sei ein Freund für Avery. Der braucht nämlich einen Freund.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Und du brauchst auch einen.«