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»Okay.«

Kalisha versuchte zu lächeln. »Du bist echt super. Komm her.« Er beugte sich zu ihr, und sie küsste ihn erst auf die Wange und dann auf den Mundwinkel. Ihre Lippen waren salzig. Das machte Luke überhaupt nichts aus.

Als er die Tür öffnete, sagte sie: »Mich hätten sie holen sollen. Oder George. Nicht Nicky. Das war der von uns, der ihren Scheiß nie hingenommen hat. Der nie aufgegeben hat.« Sie hob die Stimme. »Seid ihr da? Hört ihr zu? Hoffentlich, denn ich hasse euch, und ich will, dass ihr das wisst! ICH HASSE EUCH!«

Sie sank auf ihr Bett zurück und schluchzte los. Luke überlegte, ob er zu ihr zurückgehen sollte, ließ es aber bleiben. Er hatte sie so gut getröstet, wie er konnte, und er litt selbst, nicht nur wegen Nicky, sondern auch an den Wunden, die Dr. Richardson ihm zugefügt hatte. Ob die Frau mit den dunklen Haaren ihm Gewebeproben entnommen oder ihm etwas in den Körper implantiert hatte (ein Ortungschip wäre sinnlos gewesen, aber es konnte sich um ein experimentelles Enzym oder einen Impfstoff handeln), war ohne Belang, weil keiner von den Tests und Injektionen irgendeinen Sinn zu haben schien. Er dachte an die Konzentrationslager der Nazis und deren ebenso grässliche wie unsinnige Experimente – das Verursachen von Erfrierungen oder Brandwunden und das Infizieren mit Krankheiten.

In seinem Zimmer angelangt, überlegte er, ob er eine oder gar zwei von den Oxycodon-Tabletten einnehmen sollte, entschied sich aber dagegen.

Er überlegte, ob er mithilfe von Mr. Griffin auf die Website der Star Tribune gehen sollte, und ließ auch das bleiben.

Er dachte an Nicky, den Schwarm aller Mädchen. An Nicky, der Harry Cross erst einen Dämpfer verpasst und dann Freundschaft mit ihm geschlossen hatte, was wesentlich mutiger war, als ihn zu verprügeln. An Nicky, der sich gegen die Tests gewehrt und gegen die Männer aus dem Hinterbau gekämpft hatte, als sie ihn holen wollten. Der nie aufgab.

27

Am nächsten Tag wurden Luke und George von Joe und Hadad in Raum C11 gebracht, wo man sie eine Weile allein ließ. Als die beiden Pfleger wiederkamen, jetzt mit Kaffeebechern ausgerüstet, war Zeke bei ihnen, der rotäugig und verkatert aussah. Er setzte den beiden Jungen EEG-Hauben auf und befestigte deren Bänder stramm unter dem Kinn. Nachdem er das Display überprüft hatte, mussten die Jungen sich abwechselnd in einem Fahrsimulator betätigen. Dr. Evans kam herein, stellte sich mit seinem treuen Klemmbrett daneben und machte sich Notizen, während Zeke verschiedene Zahlen rief, die mit der Reaktionszeit zu tun haben mochten (oder auch nicht). Luke überfuhr mehrere rote Ampeln und verursachte massenhaft Unfälle, bevor er den Dreh heraushatte, aber dann machte ihm der Test tatsächlich einigermaßen Spaß – ein neues Erlebnis im Institut.

Als es vorbei war, gesellte sich Dr. Richardson zu Dr. Evans. Heute trug sie ein dreiteiliges Kostüm und High Heels, als wollte sie zu einer wichtigen geschäftlichen Besprechung. »Auf einer Skala von eins bis zehn – wie stark sind deine Schmerzen heute Morgen, Luke?«

»Die sind bei zwei«, sagte er. »Mein Wunsch, hier endlich rauszukommen, steht auf einer Skala von eins bis zehn übrigens bei elf.«

Sie gluckste, als hätte er einen mittelmäßig lustigen Witz gemacht, verabschiedete sich von Evans (wobei sie ihn Jim nannte) und verschwand.

»Na, wer von uns beiden hat gewonnen?«, erkundigte George sich bei Dr. Evans.

Der Arzt lächelte nachsichtig. »Darum geht es bei dem Test nicht.«

»Klar, aber wer hat gewonnen?«

»Ihr wart beide ziemlich schnell, sobald ihr euch mit dem Simulator vertraut gemacht hattet, was bei TKs zu erwarten ist. Keine weiteren Tests heute, Jungs, ist das nicht fein? Hadad, Joe, bitte bringen Sie die jungen Männer nach oben.«

Auf dem Weg zum Aufzug sagte George: »Ich hab, glaub ich, sechs Fußgänger überfahren, bevor ich den Bogen raushatte. Wie viele hast du erledigt?«

»Bloß drei, aber dafür bin ich in einen Schulbus gekracht. Dabei hat’s eventuell auch Tote gegeben.«

»Du Penner! Ich bin dem Bus problemlos ausgewichen.« Der Aufzug kam, und die vier traten hinein. »Eigentlich hab ich sogar sieben Fußgänger überfahren, den letzten absichtlich. Dabei hab ich mir vorgestellt, dass es Zeke ist.«

Joe und Hadad sahen sich an und lachten. Dafür mochte Luke sie ein bisschen. Das wollte er nicht, tat es jedoch trotzdem.

Als die beiden Pfleger oben wieder im Aufzug verschwunden waren, wahrscheinlich unterwegs zum Pausenraum, sagte Luke: »Nach der Sache mit den Lichtern haben sie dir doch die Karten vorgelegt. Als Telepathietest.«

»Stimmt, hab ich dir ja erzählt.«

»Haben sie dich eigentlich schon mal auf TK getestet? Dir gesagt, du sollst eine Lampe einschalten oder eine Reihe Dominosteine umfallen lassen?«

George kratzte sich am Kopf. »Tja, wo du jetzt fragst… nein. Aber wieso sollten sie das tun, wo sie doch schon wissen, dass ich so was kann? An einem guten Tag jedenfalls. Was ist mit dir?«

»Bei mir haben sie das auch nicht getan. Und natürlich hast du recht, aber es ist trotzdem unlogisch, dass sie irgendwie kein Interesse daran haben, rauszukriegen, wo unsere Grenzen liegen.«

»Logisch ist hier absolut gar nichts, Luckey-Loo. Damit angefangen, dass wir überhaupt hier sind. Komm, gehen wir was futtern.«

Die meisten Kinder saßen in der Cafeteria beim Mittagessen, aber Kalisha und Avery waren auf dem Spielplatz. Den Rücken an den Maschendrahtzaun gelehnt, saßen sie auf dem Kies und sahen sich an. Luke sagte George, er solle sich schon mal zum Essen setzen, und ging nach draußen. Das hübsche schwarze Mädchen und der kleine weiße Junge redeten nicht miteinander… und taten es doch. Das wusste Luke, aber worüber sie sich unterhielten, konnte er nicht sagen.

Ihm kam die Zulassungsprüfung in den Sinn und das Mädchen, das ihn dort nach einer mathematischen Gleichung gefragt hatte, in der es um jemand namens Aaron ging und darum, wie viel er für ein Hotelzimmer bezahlen musste. Die Erinnerung stammte wie aus einem anderen Leben, aber Luke erinnerte sich deutlich daran, dass er nicht begriffen hatte, dass ein Problem, das für ihn so einfach zu lösen war, für jemand anderes so schwer sein konnte. Jetzt begriff er es. Das, was sich da drüben am Zaun zwischen Kalisha und Avery abspielte, ging weit über seinen Horizont hinaus.

Kalisha blickte sich um und scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort. »Ich rede später mit dir, Luke. Geh was essen.«

»Okay«, sagte er, aber beim Essen konnte er dann nicht mit ihr sprechen, weil sie das ausließ. Als er später, nach einem tiefen Mittagsschlaf (er hatte schließlich nachgegeben und eine von den Schmerztabletten genommen), durch den Flur zum Aufenthaltsraum ging, blieb er an ihrer Tür stehen, die offen stand. Die rosa Tagesdecke und die Kissen mit den Rüschen waren verschwunden, das gerahmte Foto von Martin Luther King ebenfalls. Mit weit aufgerissenen Augen stand Luke da, die Hand auf dem Mund, und ließ den Anblick auf sich wirken.

Wenn sie sich gewehrt hätte wie Nicky, hätte der Lärm ihn wohl trotz der Tablette aufgeweckt. Die Alternative, dass sie bereitwillig mitgegangen war, war zwar weniger erfreulich, aber – das musste er zugeben – wahrscheinlicher. Jedenfalls war das Mädchen, das ihn zweimal geküsst hatte, nun fort.

Er ging in sein Zimmer zurück und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.

28

Am Abend hielt Luke eine seiner Münzen vor die Kamera des Laptops, um ihn aufzuwecken, dann begab er sich zu Mr. Griffin. Dass er den noch erreichen konnte, war ein Hoffnungsschimmer. Natürlich war es möglich, dass die Scheißkerle, die den Laden hier führten, von seiner Hintertür wussten, aber welchen Sinn sollte das ergeben? Was zu einer Schlussfolgerung führte, die ihm belastbar vorkam: Irgendwann erwischten ihn die Handlanger von Mrs. Sigsby eventuell dabei, wie er in die Außenwelt spähte, das war sogar wahrscheinlich, aber bisher war es nicht geschehen. Man überwachte seinen Computer also nicht ständig. Bei manchen Dingen sind sie lax, dachte er. Vielleicht bei vielen Dingen, und wieso auch nicht? Schließlich haben sie es nicht mit militärischen Gefangenen zu tun, sondern bloß mit einem Haufen von verängstigten, desorientierten Kindern.