Über die Website von Mr. Griffin verschaffte er sich Zugang zur Star Tribune. Im heutigen Hauptartikel ging es um den Streit über die Krankenversicherung, der nun schon seit Jahren tobte. Dann ergriff ihn die vertraute Furcht davor, was er jenseits der Homepage finden könnte, und um ein Haar hätte er auf den Desktopbildschirm gewechselt. Dann hätte er den neuesten Verlauf löschen, den Rechner ausschalten und ins Bett gehen können. Vielleicht nach einer weiteren Tablette. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, lautete ein bekannter Spruch, und hatte er für einen einzigen Tag nicht schon genug erfahren?
Dann dachte er an Nicky Wilholm. Hätte der wohl einen Rückzieher gemacht, wenn er eine Hintertür wie Mr. Griffin gekannt hätte? Wahrscheinlich nicht, fast sicher nicht – nur war er selbst nicht so tapfer wie Nicky.
Ihm fiel ein, wie ihm eine Münze auf den Boden gefallen war, als Winona ihm einen ganzen Haufen davon gegeben hatte. Als Tollpatsch hatte sie ihn da bezeichnet und ihm gesagt, er soll das Ding aufheben, was er ohne einen Piep getan hatte. So hätte Nicky sich ebenfalls nicht verhalten. Luke hörte ihn fast sagen: Heb sie doch selbst auf, Winnie. Die folgende Ohrfeige hätte er klaglos hingenommen, ja vielleicht hätte er sogar zurückgeschlagen.
Aber so ein Typ war Luke Ellis nicht. Luke Ellis war ein typischer braver Junge, der tat, was man ihm sagte, ob er nun bei der Hausarbeit helfen oder bei der Schulband mitmachen sollte. Er hasste seine verfluchte Trompete, weil er bei jedem dritten Ton danebenlag, aber er blieb dabei, weil Mr. Greer meinte, er müsse wenigstens an einer zusätzlichen Aktivität teilnehmen, bei der es sich nicht um Hallensport handle. Luke Ellis war jemand, der sich alle Mühe gab, gesellig zu sein, damit die Leute nicht dachten, er sei nicht nur eine Intelligenzbestie, sondern auch ein Spinner. Erst nachdem er sich ausreichend kommunikativ verhalten hatte, setzte er sich wieder an seine Bücher. Denn da war jener Abgrund, und Bücher enthielten magische Anrufungen, mit denen man ans Licht heben konnte, was dort verborgen war – alle großen Geheimnisse. Für Luke hatten diese Geheimnisse Bedeutung. Irgendwann in der Zukunft würde er vielleicht selbst Bücher schreiben.
Aber hier bestand die einzige Zukunft im Hinterbau. Hier lautete die Wahrheit der Existenz: Was würde das nützen?
»Scheiß drauf«, flüsterte er und ging auf die Lokalnachrichten der Star Tribune, während ihm sein Herzschlag in den Ohren pochte und in den kleinen Wunden pulsierte, die sich unter den Heftpflastern bereits schlossen.
Er brauchte gar nicht suchen; sobald er sein Schulfoto vom letzten Jahr sah, wusste er alles, was es zu wissen gab. Die Überschrift zu lesen war nicht nötig, aber er las sie trotzdem:
Die farbigen Lichter kamen wieder, wirbelnd und pulsierend. Luke schielte durch sie hindurch, schaltete den Laptop aus, erhob sich auf Beine, die sich nicht wie die eigenen anfühlten, und ging mit zwei zittrigen Schritten zu seinem Bett. Dann lag er im sanften Schein der Nachttischlampe da und starrte an die Zimmerdecke. Dabei verblassten die ekelhaften Pop-Art-Punkte endlich.
Sohn von ermordetem Ehepaar aus Falcon Heights.
Er fühlte sich, als hätte sich mitten in seinem Kopf eine zuvor ungeahnte Falltür geöffnet, und nur ein einziger Gedanke – klar, fest und stark – hielt ihn davon ab hindurchzustürzen: Womöglich wurde er von denen gerade beobachtet. Wahrscheinlich wussten sie nichts über die Website mit Mr. Griffin, durch die er einen Zugang zur Außenwelt hatte. Und wahrscheinlich wussten sie auch nicht, dass die Farbblitze eine fundamentale Veränderung in seinem Gehirn hervorgerufen hatten; sie dachten, das Experiment wäre gescheitert. Bisher jedenfalls noch. Das waren Dinge, die nur ihm gehörten, und die konnten sich noch als wertvoll erweisen.
Die Handlanger von Mrs. Sigsby waren nicht allmächtig. Das bewies die Tatsache, dass er weiterhin auf Mr. Griffin zugreifen konnte. Die einzige Rebellion, die sie von ihren »Gästen« erwarteten, war eine, die offen zutage trat. Sobald man den Kindern so etwas durch Einschüchterung, Schläge oder Elektroschocks ausgetrieben hatte, konnte man sie sogar während kurzer Perioden allein lassen, so wie Joe und Hadad Luke und George in C11 allein gelassen hatten, um sich Kaffee zu besorgen.
Ermordet.
Dieses Wort war die Falltür, und es wäre so leicht gewesen hindurchzufallen. Schon von Anfang an war sich Luke fast sicher gewesen, dass man ihn anlog, aber dieses fast hatte die Falltür bisher geschlossen gehalten. Es hatte ihm ein kleines bisschen Hoffnung ermöglicht. Die nüchterne Überschrift setzte jeder Hoffnung ein Ende, und da seine Eltern tot – ermordet – waren, wen würde man da wahrscheinlich verdächtigen? Den vermissten Sohn natürlich. Die Polizei, die das Verbrechen untersuchte, wusste inzwischen sicher, dass er ein besonderes Kind war, ein Genie, und galten Genies nicht als anfällig? Neigten sie nicht dazu auszuflippen?
Kalisha hatte ihren Trotz herausgebrüllt, doch das würde Luke nicht tun, sosehr es ihn auch danach verlangte. In seinem Herzen konnte er schreien, so viel er wollte, aber nicht laut. Er wusste nicht, ob seine Geheimnisse ihm etwas nützen würden, aber immerhin wusste er, dass es Risse in den Wänden dessen gab, was George Iles so passend als Höllenloch bezeichnet hatte. Wenn er diese Geheimnisse – und seine angeblich überlegene Intelligenz – als Brecheisen verwenden konnte, gelang es ihm vielleicht, einen von diesen Rissen zu erweitern. Ob es möglich war, zu fliehen, wusste er nicht, aber wenn er eine Möglichkeit dazu fand, würde seine Flucht nur der erste Schritt zu einem größeren Ziel sein.
Dann werde ich alles über denen zusammenstürzen lassen, dachte er. So wie Samson, nachdem Delila ihn dazu überredet hat, sich einen Haarschnitt verpassen zu lassen. Alles zusammenstürzen lassen und sie zermalmen. Sie alle zermalmen.
Irgendwann sank er in einen leichten Schlaf. Er träumte, dass er zu Hause war und dass seine Eltern noch lebten. Das war ein guter Traum. Sein Vater sagte zu ihm, er solle nicht vergessen, die Mülltonnen rauszustellen. Seine Mutter machte Pfannkuchen, und Luke ertränkte seinen in Brombeersirup. Sein Vater aß einen mit Erdnussbutter, während er sich die Morgennachrichten auf CBS anschaute – mit Gayle King und Norah O’Donnell, die sexy war–, und fuhr dann zur Arbeit, nachdem er Luke auf die Wange und seine Frau auf den Mund geküsst hatte. Ein guter Traum. Rolfs Mutter sollte die beiden Jungen zur Schule bringen, und als sie vor dem Haus hupte, schnappte Luke sich seinen Rucksack und rannte zur Tür. »He, vergiss das Geld fürs Mittagessen nicht«, rief seine Mutter und drückte es ihm in die Hand, nur war es kein Geld, es waren Wertmünzen, und da wachte er auf und merkte, dass jemand in seinem Zimmer war.
29
Wer, konnte Luke nicht erkennen, weil er offenbar irgendwann die Nachttischlampe ausgeschaltet hatte, obwohl er sich nicht daran erinnerte. In der Nähe vom Schreibtisch hörte er leise schlurfende Schritte und dachte zuerst, es sei einer von den Pflegern, der gekommen war, um ihm seinen Laptop wegzunehmen, weil man ihn die ganze Zeit über doch überwacht hatte und er nur so dumm gewesen war, etwas anderes anzunehmen. So extrem bescheuert.