Zorn erfüllte ihn wie Gift. Er sprang aus dem Bett, um den, der da in sein Zimmer eingedrungen war, zu attackieren. Sollte der Eindringling ihn doch schlagen, treten oder mit seinem verdammten Schockstock traktieren; Luke würde zumindest ein paar gute Schläge anbringen. Den wahren Grund, weshalb er zuschlug, würde der Typ vielleicht nicht begreifen, aber das machte nichts; ihm selbst war er völlig klar.
Nur war es kein Erwachsener. Er prallte auf einen kleinen Körper auf, den er zu Boden stieß.
»Autsch, Lukey, nicht! Tu mir nicht weh!«
Avery Dixon. Der Avester.
Luke tastete nach ihm, zog ihn hoch und führte ihn zum Bett, wo er die Lampe einschaltete. Avery blickte ihn entsetzt an.
»Mannomann, was hast du hier zu suchen?«
»Ich bin aufgewacht und hab Angst gekriegt. Zu Sha kann ich nicht gehen, weil sie die weggeholt haben. Deshalb bin ich hierhergekommen. Darf ich bleiben? Bitte?«
Das stimmte alles, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Luke begriff das mit einer Klarheit, die alles andere, was er auf diese Weise erfahren hatte, matt und trübe erscheinen ließ. Weil Avery stark TP war, wesentlich stärker als Kalisha, und in diesem Moment war Avery… tja… auf Sendung.
»Ja, du darfst bleiben«, sagte er, doch als Avery ins Bett steigen wollte, fügte er hinzu: »Na-hein, zuerst aufs Klo bitte. Du wirst nicht in mein Bett pinkeln.«
Avery widersprach nicht, und bald hörte Luke den Urin in die Schüssel plätschern. Eine ganze Menge. Als Avery wiederkam, schaltete Luke das Licht aus. Avery kuschelte sich an ihn. Es war schön, nicht allein zu sein. Wunderschön sogar.
»Das mit deiner Mama und deinem Papa tut mir leid, Luke«, flüsterte Avery ihm ins Ohr.
Für einen Moment konnte Luke nichts sagen. Als das vorüberging, flüsterte er zurück: »Hast du gestern auf dem Spielplatz mit Kalisha über mich gesprochen?«
»Ja. Sie hat mir gesagt, ich soll zu dir ins Zimmer gehen. Und dass sie dir Briefe schicken wird, und ich soll der Briefträger sein. George und Helen kannst du das verraten, wenn du meinst, dass es ungefährlich ist.«
Doch das würde er nicht tun, weil hier nichts ungefährlich war. Nicht einmal zu denken war ungefährlich. Dabei fiel ihm ein, was er gesagt hatte, als Kalisha ihm von Nickys Kampf gegen die rot gekleideten Pfleger aus dem Hinterbau berichtet hatte: Er hat ihm das Ding aus der Hand gekickt. Womit er den Schockstock gemeint hatte. Kalisha hatte ihn nicht gefragt, wie er das wissen konnte, weil sie mit einiger Sicherheit längst über ihn Bescheid wusste. Und vor ihr hatte er seine neuen TP-Fähigkeiten geheim halten wollen? Vor den anderen war das vielleicht möglich, aber nicht vor Kalisha. Und nicht vor Avery.
»Schau hin!«, flüsterte Avery.
Luke konnte nirgendwo hinschauen, weil die Lampe nicht brannte und es kein Fenster gab, durch das irgendwelches Licht von außen hätte hereindringen können. Es war also völlig dunkel im Zimmer, aber er schaute trotzdem hin und glaubte Kalisha zu sehen.
»Geht es ihr gut?«, flüsterte er.
»Ja. Vorläufig.«
»Ist Nicky auch dort?«
»Ja«, flüsterte Avery. »Und Iris auch. Bloß kriegt sie Kopfschmerzen. Andere Kinder da auch. Sha meint, das kommt von den Filmen. Und von den Blitzen.«
»Was für Filme?«
»Weiß nicht, Sha hat noch keine gesehen, aber Nicky schon. Iris auch. Kalisha meint, es gibt da noch andere Kinder – vielleicht im hinteren Teil vom Hinterbau – aber da, wo sie jetzt ist, sind nur ein paar. Jimmy und Len. Und Donna.«
Ich habe den Computer von Donna, dachte Luke. Hab ihn geerbt.
»Zuerst war noch Bobby Washington da, aber der ist jetzt fort. Iris hat Kalisha erzählt, dass sie ihn gesehen hat.«
»Den und die anderen kenne ich nicht.«
»Kalisha sagt, Donna ist, ein paar Tage bevor du gekommen bist, im Hinterbau gelandet. Deshalb hast du ihren Computer.«
»Du bist wirklich unheimlich«, sagte Luke.
Avery, der wahrscheinlich wusste, dass er unheimlich war, reagierte nicht darauf. »Sie kriegen Spritzen, die wehtun. Spritze für Blitze, Spritze für Blitze. Sha sagt, sie meint, dass im Hinterbau schlimme Dinge passieren können. Vielleicht kannst du was dagegen tun, sagt sie. Sie sagt…«
Er beendete den Satz nicht und musste das auch nicht. Luke sah kurz, aber blendend klar ein Bild vor Augen, das ihm bestimmt von Kalisha Benson über Avery Dixon gesendet worden war: einen Kanarienvogel im Käfig. Die Tür ging auf, und der Vogel flog heraus.
»Sie sagt, du bist der Einzige, der dafür klug genug ist.«
»Wenn ich kann, werde ich etwas unternehmen«, sagte Luke. »Was hat sie dir sonst noch erzählt?«
Darauf erhielt er keine Antwort. Avery war eingeschlafen.
FLUCHT
1
Drei Wochen vergingen.
Luke aß. Er schlief, wachte auf, aß wieder. Bald kannte er die Speisekarte auswendig und brach mit den anderen Kindern in sarkastischen Applaus aus, wenn sich etwas darauf änderte. An manchen Tagen gab es Tests. An manchen Tagen gab es Spritzen. An manchen Tagen gab es beides, und an manchen Tagen weder das eine noch das andere. Von manchen Injektionen wurde ihm übel, von den meisten nicht. Seine Kehle verkrampfte sich nicht wieder, wofür er dankbar war. Er hing auf dem Spielplatz herum. Es sah fern und schloss dabei Freundschaft mit Oprah, Ellen, Dr. Phil und Judge Judy. Er sah Youtube-Videos von Katzen, die sich im Spiegel betrachteten, und von Hunden, die Frisbees fingen. Manchmal schaute er sich solche Sachen allein an, manchmal gemeinsam mit einigen von den anderen Kindern. Wenn Luke das Zimmer von Harry aufsuchte, waren fast immer die Zwillinge da. Harry stand nicht auf Zeichentrickfilme, er war ein Fan von Wrestling, Mixed Martial Arts und NASCAR-Massenkarambolagen. Für gewöhnlich begrüßte er Luke mit »Schau dir das an!«. Die Zwillinge wiederum waren versessen auf Ausmalbilder, weshalb die Pfleger ständig neue Malbücher anschleppten. Normalerweise hielten sich Gerda und Greta an die vorgezeichneten Linien, aber an einem Tag taten sie das nicht und lachten außerdem ständig, weshalb Luke folgerte, dass sie entweder betrunken oder high waren. Als er Harry danach fragte, sagte der, sie hätten das Zeug mal versuchen wollen. Er hatte den Anstand, dabei beschämt dreinzublicken, und als die beiden sich erbrachen (im Tandem, wie sie alles taten), hatte er den Anstand, noch beschämter dreinzublicken. Außerdem beseitigte er die Schweinerei. Eines Tages machte Helen dreimal hintereinander eine Rolle vorwärts auf dem Trampolin, lachte, verbeugte sich, brach dann in Tränen aus und weigerte sich, getröstet zu werden. Als Luke es versuchte, schlug sie mit ihren kleinen Fäusten auf ihn ein, bamm, bamm, bamm. Eine Weile schlug Luke alle im Schach, und als das langweilig wurde, suchte er nach Möglichkeiten zu verlieren, was ihm erstaunlich schwerfiel.
Selbst wenn er wach war, hatte er das Gefühl zu schlafen. Er spürte, wie sein IQ abnahm, das spürte er tatsächlich. Es war so, als würde der Wasserspiegel in einem Wasserspender sinken, weil jemand den Hahn aufgelassen hatte. Er zählte die Zeit dieses seltsamen Sommers mit dem Kalender seines Computers ab. Sonst verwendete er diesen – mit einer bedeutsamen Ausnahme – ausschließlich dazu, sich Videos auf YouTube anzuschauen und um Nachrichten mit George und Helen auszutauschen, wenn die in ihren Zimmern waren. Von sich aus begann er solche Unterhaltungen nie und hielt sie so kurz wie möglich.
Scheiße, was ist los mit dir?, schrieb Helen ihm einmal.
Nichts, schrieb er zurück.
Was meinst du, wieso wir immer noch im Vorderbau sind?, schrieb George. Nicht dass ich mich drüber beschweren würde.