Keine Ahnung, tippte Luke und loggte sich aus.
Er bekam heraus, dass es nicht schwer war, seinen Kummer vor den Pflegern, MTAs und Ärzten zu verbergen; die waren daran gewöhnt, mit deprimierten Kindern umzugehen. Aber selbst in seiner tiefen Traurigkeit dachte er manchmal an das helle Bild, das Avery ihm gezeigt hatte: ein Kanarienvogel, der aus seinem Käfig flog.
Gelegentlich und immer unerwartet drangen strahlende Erinnerungsfragmente in seinen kummervollen Wachschlaf: wie sein Vater ihn mit dem Gartenschlauch bespritzte; wie seinem Vater mit dem Rücken zum Basketballkorb ein Wurf gelang, worauf Luke sich auf ihn stürzte und beide lachend auf den Rasen fielen; wie seine Mutter an seinem zwölften Geburtstag einen riesigen, mit brennenden Kerzen bestückten Cupcake an den Tisch gebracht hatte; wie seine Mutter ihn umarmt und zu ihm gesagt hatte: Du wirst allmählich richtig groß; wie seine Eltern zum Klang von Rihannas »Pon de Replay« wie verrückt in der Küche herumgetanzt waren. Diese Erinnerungen waren einerseits wunderschön, andererseits brannten sie wie Brennnesseln.
Wenn er nicht an das ermordete Ehepaar aus Falcon Heights dachte – oder von ihm träumte–, dachte Luke an den Käfig, in dem er steckte, und an den freien Vogel, der er werden wollte. Nur in solchen Momenten war sein Denken in der Lage, seine frühere Schärfe wiederzugewinnen. Er bemerkte Dinge, die seine Annahme zu bestätigen schienen, dass das Institut so träge dahinglitt wie ein Raumschiff, dessen Motoren man abgeschaltet hatte, sobald die Fluchtgeschwindigkeit erreicht war. Ein Beispiel dafür waren die Überwachungskuppeln an der Decke der Flure. Ihr schwarzes Glas war meistens so verschmutzt, als wäre es lange nicht mehr gereinigt worden. Vor allem im verlassenen Westflügel der Wohnebene. Wahrscheinlich funktionierten die Kameras dort noch, lieferten aber ein bestenfalls verschwommenes Bild. Dennoch hatten Fred der Hausmeister und seine Kollegen Mort, Connie und Jawed offenbar keine Anweisungen erhalten, das Glas zu reinigen, und das bedeutete, dass der Typ, der auf seinem Monitor die Flure überwachen sollte, sich einen Dreck darum scherte, dass er kaum mehr etwas sah.
Luke ging mit gesenktem Kopf durch seine Tage und tat ohne Widerspruch, was man ihm sagte, aber wenn er nicht gerade erschöpft in seinem Zimmer lag, hatte er ausgesprochen große Ohren. Das meiste, was er hörte, war nutzlos, aber er nahm trotzdem alles in sich auf. Nahm es auf und prägte es sich ein. Klatsch und Tratsch zum Beispiel. Dass Dr. Evans immer hinter Dr. Richardson her war und versuchte, Gespräche mit ihr anzuzetteln, weil er zu pussygeil war (der Ausdruck stammte von der Pflegerin Norma), als dass er merkte, dass Felicia Richardson ihn nicht mal mit Handschuhen anfassen würde. Dass Joe und zwei andere Pfleger – Chad und Gary – die Wertmünzen, die sie nicht verteilten, manchmal dazu verwendeten, an dem Automaten im Aufenthaltsraum Weinfläschchen oder Alcopops zu ziehen. Ab und zu unterhielten sie sich über ihre Familien oder darüber, zu einem Bier ins Outlaw Country zu gehen, eine Kneipe, wo Bands auftraten. »Falls man so was als Musik bezeichnen will«, hörte Luke einmal eine Pflegerin namens Sherry zu Gladys (der mit dem falschen Lächeln) sagen. Die besagte Kneipe, die von den männlichen MTAs und Pflegern auch als »The Cunt« bezeichnet wurde, befand sich in einem Ort, der Dennison River Bend hieß. Wie weit der entfernt war, war Luke nicht ganz klar, aber es konnten nicht mehr als fünfundzwanzig oder höchstens dreißig Meilen sein, weil da offenbar alle hinfuhren, wenn sie freihatten.
Luke merkte sich außerdem alle Namen, die er hörte. Dr. Evans hieß James, Dr. Hendricks hieß Dan, der Nachname von Tony war Fizzale, der von Gladys war Hickson, der von Zeke war Ionidis. Wenn er jemals hier herauskam, wenn der Kanarienvogel je aus seinem Käfig flog, wollte er eine anständige Liste parat haben, um vor Gericht gegen diese Arschlöcher auszusagen. Wahrscheinlich war das nur eine zu schöne Fantasie, das war ihm klar, aber sie hielt ihn aufrecht.
Da er nun wie ein braver kleiner Junge durch die Tage marschierte, ließ man ihn auf Ebene C manchmal für kurze Zeiträume allein, immer mit der Ermahnung, an Ort und Stelle zu bleiben. Dann nickte er, wartete, bis sein Betreuer verschwunden war, und machte sich auf den Weg. Auf den unteren Ebenen gab es massenhaft Kameras, die allesamt hübsch sauber gehalten wurden, aber es wurde nie Alarm ausgelöst, und es stürmten auch keine Pfleger mit Schockstöcken den Flur entlang. Zweimal entdeckte man ihn bei seinen Wanderungen und führte ihn zurück, einmal mit einem scharfen Verweis und einmal mit einem flüchtigen Schlag in den Nacken.
Bei diesen Streifzügen versuchte er immer, so gelangweilt und ziellos zu wirken, als wollte er sich nur die Zeit vertreiben, bis er zum nächsten Test gebracht wurde oder in sein Zimmer zurückkehren durfte. Einmal entdeckte er einen echten Schatz. Im MRT-Raum, der an diesem Tag nicht benutzt wurde, sah er eine von den Karten, die man für den Aufzug brauchte, halb versteckt unter einem Computerbildschirm liegen. Er ging am Tisch vorbei, schnappte sich die Karte und schob sie in die Hosentasche, während er in die leere MRT-Röhre spähte. Als er den Raum verließ, erwartete er geradezu, dass die Karte »Dieb, Dieb!« rief (wie die goldene Harfe, die Hans dem Riesen auf der Bohnenranke stahl), aber nichts geschah, weder in diesem Moment noch später. Wurde der Verbleib von solchen Karten nicht kontrolliert? Offenbar nicht. Vielleicht war die Karte ja auch abgelaufen und so nutzlos wie eine Schlüsselkarte im Hotel, wenn der Gast, für den sie codiert worden war, ausgecheckt hatte.
Doch als Luke die Karte am nächsten Tag im Aufzug ausprobierte, stellte er erfreut fest, dass sie funktionierte. Als Dr. Richardson ihn einen weiteren Tag später dabei erwischte, wie er auf Ebene D in den Raum spähte, in dem der Wassertank stand, erwartete er eine Bestrafung – etwa einen Stromstoß mit dem Schockstock, den sie in einem Holster unter ihrem weißen Kittel trug, oder eine Ohrfeige von Tony oder Zeke. Stattdessen steckte sie ihm doch tatsächlich eine Münze zu, wofür er ihr dankte.
»Da war ich noch nicht drin«, sagte Luke und zeigte auf den Tank. »Ist das schlimm?«
»Nein, es macht Spaß«, sagte sie, worauf Luke sie breit angrinste, als würde er ihren Schwachsinn wirklich glauben. »Sag mal, was hast du hier unten eigentlich zu suchen?«
»Ich bin mit einem von den Pflegern mitgefahren. Wie der heißt, weiß ich nicht. Er hatte wohl sein Namensschild vergessen.«
»Das ist gut«, sagte sie. »Wenn du seinen Namen wüsstest, müsste ich ihn nämlich melden, und er würde Probleme kriegen. Und dann? Papierkram, Papierkram, Papierkram.« Sie verdrehte die Augen, und Luke sah sie mit einem Ausdruck an, der besagte: Da haben Sie mein volles Mitgefühl. Sie brachte ihn zum Aufzug zurück und fragte ihn, wo er sich momentan aufhalten solle, und er sagte, auf Ebene B. Während sie mit ihm hinauffuhr, erkundigte sie sich, ob er noch Schmerzen habe. Nein, die seien völlig weg, sagte er.
Ein andermal fuhr er mit der Karte auf Ebene E, wo es eine Menge mechanisches Zeug gab, aber als er versuchte, noch tiefer hinunterzufahren – theoretisch war das möglich, er hatte Gespräche belauscht, in denen von den Ebenen F und G die Rede war–, teilte ihm die weibliche Aufzugstimme freundlich mit, dass ihm der Zugang verweigert wurde. Was okay war; schließlich ging Probieren über Studieren.
Im Vorderbau wurden keine schriftlichen Tests durchgeführt, aber viele EEG-Untersuchungen. Manchmal nahm Dr. Evans die Kinder gruppenweise dran, aber nicht immer. Einmal, als Luke allein untersucht wurde, verzog Dr. Evans plötzlich das Gesicht, presste sich die Hand auf den Bauch und sagte, er werde gleich wiederkommen. Luke solle bloß nichts anfassen. Damit hastete er hinaus. Wahrscheinlich um ein Ei zu legen.
Luke inspizierte die Computermonitore, fuhr mit den Fingern über mehrere Tastaturen und erwog, an denen ein bisschen herumzupfuschen, gelangte jedoch zu der Einschätzung, dass das eine schlechte Idee war, und ging stattdessen zur Tür. Er blickte gerade in dem Moment in den Flur, wo sich die Aufzugtür öffnete und der große Typ mit Glatze heraustrat. Er trug denselben teuren Anzug wie beim ersten Mal. Vielleicht war es auch ein anderer, womöglich besaß Stackhouse einen ganzen Kleiderschrank voll teurer brauner Anzüge. In den Händen hatte er einen kleinen Stapel Papiere, die er durchblätterte, während er den Flur entlangging. Luke zog sich schnell zurück. An Raum C4, in dem die EEG- und EKG-Geräte standen, grenzte eine kleine Gerätekammer mit Regalen für verschiedenes Zubehör. Luke schlüpfte hinein, ohne zu wissen, ob die Idee, sich zu verstecken, eine simple Ahnung, ein Resultat seiner neuen TP-Gehirnwellen oder gute, alte Paranoia war. Jedenfalls tat er es gerade noch rechtzeitig, denn Stackhouse steckte den Kopf in den Raum, blickte sich um und ging dann davon. Luke wartete ab, bis er endgültig verschwunden war, bevor er sich auf seinen Stuhl neben dem EEG-Gerät setzte.