Zwei oder drei Minuten später eilte Evans mit flatterndem weißem Kittel herein. Seine Wangen waren gerötet, die Augen weit geöffnet. Er packte Luke am T-Shirt. »Was hat Stackhouse gesagt, als er dich hier alleine gesehen hat? Sag’s mir!«
»Der hat gar nichts gesagt, weil er mich nicht gesehen hat. Ich hab gerade aus der Tür geschaut, wo Sie wohl bleiben, und als Mr. Stackhouse aus dem Aufzug gestiegen ist, bin ich da reingegangen.« Er deutete auf die Gerätekammer, dann blickte er mit großen, unschuldigen Augen zu dem Arzt hinauf. »Schließlich wollte ich nicht, dass Sie Ärger kriegen.«
»Braver Junge!«, sagte Evans und schlug ihm auf den Rücken. »Ich hatte ein dringendes Bedürfnis und war mir sicher, dass ich dir vertrauen kann. Jetzt machen wir aber den Test, ja? Dann kannst du raufgehen und mit deinen Freunden spielen.«
Bevor Evans eine Pflegerin namens Yolanda rief (Familienname: Freeman), die Luke auf Ebene A zurückbringen sollte, gab er ihm ein ganzes Dutzend Wertmünzen und einen weiteren herzhaften Klaps auf den Rücken. »Das bleibt unser kleines Geheimnis, ja?«
»Klar doch«, sagte Luke.
Der meint doch tatsächlich, dass ich ihn mag, dachte Luke staunend. Wie abgefahren war das denn? Er konnte kaum erwarten, es George zu erzählen.
2
Nur tat er das nie. Beim Abendessen saßen zwei neue Kinder am Tisch, und ein altes fehlte. Man hatte George abgeholt, womöglich gerade da, wo Luke sich in der Gerätekammer vor Stackhouse versteckt hatte.
»Er ist bei den anderen«, flüsterte Avery ihm später am Abend zu, als sie gemeinsam im Bett lagen. »Sha sagt, dass er weint, weil er Angst hat. Sie hat ihm gesagt, das ist normal. Dort hätten alle Angst.«
3
Einige Male blieb Luke bei seinen Streifzügen vor dem Pausenraum auf Ebene B stehen, wo man interessanten wie erhellenden Unterhaltungen lauschen konnte. Der Raum wurde nicht nur vom Personal verwendet, sondern auch von Gruppen, die von außen kamen und manchmal Reisetaschen ohne Gepäckanhänger einer Fluglinie am Handgriff dabeihatten. Wenn diese Leute Luke sahen – der sich etwa gerade an dem nahen Wasserspender bediente oder so tat, als würde er ein Plakat mit Hygieneinformationen studieren–, blickten sie im Allgemeinen durch ihn hindurch, als wäre er ein Möbelstück. Sie hatten einen harten Ausdruck im Gesicht, und Luke war sich zunehmend sicher, dass es sich um die Sammler und Jäger des Instituts handelte. Das lag deshalb nahe, weil sich im Westflügel jetzt mehr Kinder befanden. Einmal hörte Luke ein Gespräch zwischen Joe und Hadad mit; die beiden waren gute Kumpel. Im Institut laufe es so wie in dem Badeort auf Long Island, wo er aufgewachsen sei, sagte Joe: »Manchmal ist Ebbe, und manchmal ist Flut.«
»Inzwischen ist meistens Ebbe«, erwiderte Hadad, was stimmen mochte, aber während der Juli seinem Ende entgegenstrebte, sah es eher nach Flut aus.
Manche von außen kommende Gruppen waren ein Trio, manche ein Quartett. Sie machten einen militärischen Eindruck, wohl weil die Männer alle ziemlich kurz geschoren waren und die Frauen ihre Haare eng zusammengezogen und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden hatten. Er hörte, wie ein Pfleger eine der Gruppen als Emerald bezeichnete, ein MTA nannte eine andere Ruby Red. Letztere war ein aus zwei Frauen und einem Mann bestehendes Trio. Luke wusste, dass es sich bei Ruby Red um das Team handelte, das nach Minneapolis gekommen war, um seine Eltern zu ermorden und ihn zu entführen. Er versuchte, die Namen zu erfahren, wobei er mit seinen Gedanken ebenso lauschte wie mit den Ohren, war jedoch nur in einem Fall erfolgreich – die Frau, die ihm in seiner letzten Nacht zu Hause etwas ins Gesicht gesprüht hatte, hieß Michelle. Als sie ihn im Flur über den Wasserspender gebeugt dastehen sah, huschte ihr Blick an ihm vorbei… um dann für einen Moment zurückzukehren.
Michelle.
Ein weiterer Name, den er sich einprägen konnte.
Luke brauchte nicht lange, um seine Theorie zu bestätigen, dass diese Gruppen den Auftrag hatten, frische TPs und TKs herbeizuschaffen. Er stand vor dem Pausenraum und studierte zum x-ten Mal das Hygieneplakat, als einer der Männer von Emerald sagte, sie müssten gleich wieder losziehen, um in Michigan schnell jemand abzuholen. Am nächsten Tag gesellte sich eine verwirrte Vierzehnjährige namens Frieda Brown zu der wachsenden Schar im Westflügel.
»Ich gehöre hier nicht hin«, sagte sie zu Luke. »Da hat jemand einen Fehler gemacht.«
»Schön wär’s«, erwiderte Luke und erklärte ihr dann, wie man an Wertmünzen gelangte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn verstand, aber mit der Zeit würde sie schon kapieren, wie es hier lief. Das tat jeder.
4
Niemand schien etwas dagegen zu haben, dass Avery beinahe jede Nacht bei Luke im Zimmer schlief. Er war der Postbote, der Luke Briefe von Kalisha aus dem Hinterbau brachte, nur dass diese Briefe per Telepathie kamen anstatt mit der regulären Post. Dass Lukes Eltern ermordet worden waren, war noch zu frisch und zu schmerzlich, als dass die Briefe ihn aus seinem halb träumenden Zustand geweckt hätten, aber die Nachrichten, die sie enthielten, beunruhigten ihn trotzdem. Erhellend waren sie außerdem, wenngleich er auf die Sorte Erhellung gern verzichtet hätte. Im Vorderbau wurden die Kinder getestet und bei Fehlverhalten bestraft; im Hinterbau wurden sie an die Arbeit geschickt. Benutzt. Und, wie es schien, nach und nach zerstört.
Die Filme, die man dort zu sehen bekam, verursachten Kopfschmerzen, die zunehmend länger andauerten und sich verschlimmerten. Als George angekommen war, war es ihm gut gegangen, nur Angst hatte er laut Kalisha gehabt, doch nachdem er vier oder fünf Tage den farbigen Punkten, den Filmen und den schmerzhaften Injektionen ausgesetzt gewesen war, kamen die Kopfschmerzen dazu.
Die Filme wurden in einem kleinen Vorführraum mit bequemen Plüschsesseln gezeigt. Am Anfang kamen alte Zeichentrickfilme, darunter welche mit dem Road Runner, mit Bugs Bunny, mit Goofy und Micky. Nach dieser Aufwärmphase begann die eigentliche Show. Wie Kalisha berichtete, waren die Filme ziemlich kurz, höchstens eine halbe Stunde lang, aber das war für sie schwer zu beurteilen, weil sie während der Vorführung wie benebelt war und anschließend Kopfschmerzen hatte. Das ging allen so.
Als Kalisha die ersten beiden Male im Vorführraum gewesen war, hatte man den Kindern vom Hinterbau ein Double Feature gezeigt. Der Star des ersten Films war ein Mann mit schütterem, rotem Haar. Er trug einen schwarzen Anzug und fuhr einen glänzenden schwarzen Wagen. Avery versuchte, Luke den Wagen zu zeigen, aber Luke sah nur ein verschwommenes Bild, vielleicht weil das alles war, was Kalisha senden konnte. Dennoch tippte Luke auf eine Limousine, zum Beispiel ein Town Car, weil Avery sagte, die Fahrgäste würden immer hinten sitzen. Außerdem öffnete der rothaarige Mann ihnen die Tür, wenn sie ein- und ausstiegen. Meistens waren es dieselben Personen, hauptsächlich alte weiße Männer, aber einmal war es ein jüngerer Typ mit einer Narbe auf der Wange.