Выбрать главу

»Sha sagt, er hat Stammkunden«, flüsterte Avery, während er bei Luke im Bett lag. »Sie sagt, es muss in Washington sein, weil er am Kapitol und am Weißen Haus vorbeifährt, und manchmal sieht man diese große Nadel aus Stein.«

»Das Washington Monument.«

»Ja, genau.«

Gegen Ende des Films tauschte der Mann mit dem roten Haar seinen schwarzen Anzug gegen normale Kleidung. Man sah, wie er auf einem Pferd ritt, dann ein kleines Mädchen auf einer Schaukel anschubste und mit demselben kleinen Mädchen schließlich auf einer Parkbank Eiscreme schleckte. Danach erschien Dr. Hendricks auf der Leinwand, eine nicht angezündete Wunderkerze in der erhobenen Hand.

In dem zweiten Film ging es um einen Mann, der etwas trug, was Kalisha als arabische Kopfbedeckung bezeichnete, womit wahrscheinlich eine Kufija gemeint war. Er ging erst eine Straße entlang, dann saß er in einem Straßencafé, wo er aus einem Glas Tee oder Kaffee trank, dann hielt er eine Rede, dann schwang er einen kleinen Jungen an den Händen durch die Luft. Einmal war er im Fernsehen. Wieder endete der Film damit, dass Dr. Hendricks die nicht angezündete Wunderkerze hochhielt.

Am folgenden Morgen sahen Sha und die anderen einen Zeichentrickfilm mit Sylvester und Tweety, gefolgt von einem fünfzehn bis zwanzig Minuten langen Film mit dem rothaarigen Chauffeur. Dann Mittagessen in der Cafeteria des Hinterbaus, wo es umsonst Zigaretten gab. Am Nachmittag wurden erst Schweinchen Dick und dann der Araber vorgeführt. Beide Filme endeten mit Dr. Hendricks und der Wunderkerze. Am Abend erhielten alle schmerzhafte Injektionen und eine neue Dosis der blitzenden Lichter. Dann brachte man sie noch einmal in den Vorführraum, wo sie sich zwanzig Minuten lang Filme mit Autounfällen ansehen mussten. Nach jeder Karambolage kam Dr. Hendricks mit seiner Wunderkerze auf die Leinwand.

Da Luke zwar voller Trauer, aber nicht dämlich war, begann er zu begreifen. Es war verrückt, aber nicht verrückter, als gelegentlich in der Lage zu sein, anderen Leuten in den Kopf zu blicken. Außerdem erklärte es so allerhand.

»Kalisha sagt, sie hat wohl einen Blackout gehabt und was geträumt, während die Autounfälle gelaufen sind«, flüsterte Avery Luke ins Ohr. »Bloß ist sie sich nicht sicher, ob es wirklich ein Traum war. Sie sagt, die Kids – sie, Nicky, Iris, Donna, Len und ein paar andere – haben mitten in so farbigen Punkten gestanden. Sie haben die Arme umeinandergelegt und die Köpfe zusammengesteckt. Dr. Hendricks wär auch da gewesen, und diesmal hat er die Wunderkerze angezündet, was irgendwie unheimlich war. Aber solange die Kinder zusammengeblieben sind und sich umarmt haben, hat ihnen der Kopf nicht mehr wehgetan. Vielleicht war es doch ein Traum, sagt sie, weil sie in ihrem Zimmer aufgewacht ist. Die Zimmer im Hinterbau sind nicht wie unsere. Dort wird man nachts eingesperrt.« Avery machte eine Pause. »Heute Nacht will ich nicht mehr drüber reden, Lukey.«

»Schon okay. Schlaf jetzt.«

Das tat Avery, aber Luke lag noch lange wach.

Am nächsten Tag nutzte er seinen Laptop endlich für etwas anderes als dazu, das Datum zu checken, Nachrichten mit Helen auszutauschen und sich BoJack Horseman anzuschauen. Er suchte Mr. Griffin auf und von dem aus die New York Times, die ihm mitteilte, er könne kostenlos zehn Artikel lesen, bevor er auf eine Paywall stoßen werde. Luke wusste zwar nicht genau, wonach er suchte, war sich jedoch sicher, dass er es sofort erkennen würde, wenn er es fand. Was auch zutraf. Eine Überschrift auf der Titelseite vom 15. Juli lautete: Kongressabgeordneter Berkowitz erliegt seinen Verletzungen.

Anstatt den Artikel zu lesen, klickte Luke auf den Tag davor. Hier hieß es: Präsidentschaftskandidat Mark Berkowitz bei Autounfall lebensgefährlich verletzt. Man sah ein Foto. Berkowitz, ein Kongressabgeordneter aus Ohio, hatte schwarzes Haar und auf der Wange eine Narbe, die von einer in Afghanistan erlittenen Verwundung stammte. Das Lincoln Town Car, in dem Berkowitz zu einem Treffen mit Politikern aus Polen und Serbien unterwegs war, war ins Schleudern geraten und auf den Betonpfeiler einer Brücke geprallt. Der Fahrer war sofort tot gewesen, eine nicht namentlich genannte Quelle aus dem Med-Star-Hospital bezeichnete die Verletzungen von Berkowitz als »extrem schwer«. Ob der Fahrer rote Haare hatte, stand nicht in dem Artikel, aber Luke wusste auch so Bescheid, und er war sich ziemlich sicher, dass bald jemand in einem arabischen Land sterben würde, falls das nicht schon geschehen war. Vielleicht würde der Betreffende auch eine wichtige Person ermorden.

Lukes wachsende Gewissheit, dass er und die anderen Kinder für ihren Einsatz als mentale Drohnen vorbereitet wurden – ja, selbst der harmlose Avery Dixon, der keiner Fliege etwas zuleide tun würde–, weckte ihn langsam auf, aber es bedurfte der Horrorshow mit Harry Cross, um ihn vollends aus seinem kummervollem Halbschlaf zu reißen.

5

Am folgenden Abend saßen gut fünfzehn Kinder beim Abendessen. Manche unterhielten sich und lachten, manche von den Neuen weinten oder riefen irgendwelches Zeug. In gewisser Weise, dachte Luke, ging es im Institut zu wie in einem Irrenhaus früherer Zeiten, wo die Verrückten einfach verwahrt wurden, ohne jemals geheilt zu werden.

Zuerst war Harry nicht da; am Mittagessen hatte er auch nicht teilgenommen. Das Riesenbaby hinterließ zwar meist nur einen mickrigen Echoimpuls auf Lukes Radarschirm, aber beim Essen war er kaum zu übersehen, weil Gerda und Greta in ihren genau gleichen Klamotten immer neben ihm saßen. Sie beobachteten ihn mit leuchtenden Augen, während er über die NASCAR, über Wrestling, über seine Lieblingssendungen und über das Leben »drunten in Selma« plapperte. Wenn jemand ihn aufforderte, mal die Luft anzuhalten, warfen die Zwillinge dem Störenfried tödliche Blicke zu.

An diesem Abend saßen die beiden Mädchen allein beim Essen und waren sichtlich unglücklich darüber. Allerdings hatten sie Harry den Platz zwischen sich reserviert, und als er langsam hereingetappt kam, mit wabbelndem Bauch und einem gewaltigen Sonnenbrand, liefen sie hallo rufend auf ihn zu. Ausnahmsweise schien er sie kaum zu bemerken. In seinen Augen lag ein leerer Ausdruck, und sie waren nicht so koordiniert, wie es sich gehört hätte. An seinem Kinn glänzte Speichel, auf seiner Hose war am Schritt ein feuchter Fleck. Alle Gespräche verstummten. Die Neuankömmlinge wirkten verwirrt und erschrocken; wer schon lange genug da war, dass er mit allerhand Tests traktiert worden war, sah sein Gegenüber besorgt an.

Luke und Helen tauschten einen Blick. »Der wird schon wieder«, sagte sie. »Für manche ist es eben schlimmer als für…«

Avery, der neben ihr saß, ergriff mit beiden Händen ihre linke Hand. »Der wird nicht wieder«, sagte er mit gespenstischer Ruhe. »Nie wieder.«

Harry stieß einen Schrei aus, sank auf die Knie und prallte dann mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Aus Nase und Lippen floss Blut aufs Linoleum. Er begann zu zittern, dann bekam er Zuckungen. Seine Beine hoben und spreizten sich, die Arme flatterten. Aus seinem Mund kam ein knurrendes Geräusch, nicht wie das eines Tieres, sondern wie ein Motor, der in einem niedrigen Gang zu hoch gejagt wurde. Immer noch knurrend, wälzte er sich auf den Rücken. Zwischen den zitternden Lippen trat blutiger Schaum hervor; der Mund klappte auf und zu.

Die Zwillinge begannen zu kreischen. Während Gladys aus dem Flur und Norma vom Büfett herbeigerannt kamen, kniete eines der kleinen Mädchen sich neben Harry hin und wollte ihn umarmen. Seine große, rechte Hand erhob sich, holte Schwung und kam zurückgesaust. Er traf die Kleine mit so furchtbarer Wucht seitlich am Gesicht, dass sie durch die Gegend flog. Mit einem dumpfen Schlag prallte sie mit dem Kopf an die Wand. Schreiend rannte ihre Schwester zu ihr.