Выбрать главу

Als Tim sich umblickte, sah er den Eigentümer und zu dieser Abendstunde einzigen Angestellten des noblen Etablissements vor sich stehen. Der Mann war klapperdürr. Auf seiner oberen Hälfte hing eine Weste mit Paisleymuster. Seine Khakihose trug er im Hochwasserstil, wohl damit seine weißen Socken und seine alten Converse-Sneakers besser zur Geltung kamen. Sein etwas rattenhaftes Gesicht wurde von einem klassischen Beatles-Haarschnitt umrahmt.

»Sagen Sie bloß«, erwiderte Tim.

»Is eigentlich schnuppe.« Norbert zuckte die Achseln. »Der Abendzug fährt sowieso immer bloß durch. Das tut der um Mitternacht meistens auch, falls er nicht Diesel liefert oder frisches Obst und Gemüse für den Laden. Da hinten kommt ’ne Kreuzung.« Zur Demonstration kreuzte er die Zeigefinger. »Eine Strecke geht runter nach Atlanta, Birmingham, Huntsville und so weiter. Die andere kommt von Jacksonville rauf und geht nach Charleston, Wilmington, Newport News und so weiter. Bloß die Züge, wo tagsüber kommen, machen meistens halt. Übrigens, ham Sie sich schon mal überlegt, im Lagerhaus zu arbeiten? Die suchen nämlich normalerweise ein oder zwei Leute. Braucht man allerdings ’nen starken Rücken für. Nix für mich.«

Tim sah Norbert an. Der trat von einem Bein auf das andere und setzte ein Grinsen auf, bei dem eine Reihe todgeweihter Zähne sichtbar wurden. Die waren zwar noch vorhanden, aber ganz sicher nicht mehr lange.

»Wo steht eigentlich Ihr Auto?«

Tim blickte Norbert nur weiter an.

»Sind Sie ’n Cop?«

»Momentan bin ich bloß jemand, der zuschaut, wie die Sonne hinter den Bäumen untergeht«, sagte Tim. »Und das würde ich ganz gern alleine tun.«

»Schon kapiert, schon kapiert«, sagte Norbert und trat den Rückzug an. Er blieb lediglich kurz stehen, um mit zusammengekniffenen Augen einen einzelnen, prüfenden Blick über die Schulter zu werfen.

Irgendwann war der Güterzug vorübergefahren. Das rote Blinklicht am Bahnübergang erlosch, und die Schranken hoben sich. Die zwei oder drei Fahrer, die gewartet hatten, ließen den Motor an und fuhren los. Tim sah die Farbe der sinkenden Sonne von Orange in Rot übergehen – Abendrot, Gutwetterbot hätte sein Großvater, der Nachtklopfer, gesagt. Die Schatten der Kiefern streckten sich lang über die SR 92 und flossen ineinander. Er war sich ziemlich sicher, dass er den Job nicht bekommen würde, was vielleicht ohnehin besser war. DuPray schien weit von allem weg zu sein; es war weniger eine Nebenstrecke als ein verdammtes Abstellgleis. Hätte es nicht die vier Lagerhäuser da hinten gegeben, würde die Stadt wahrscheinlich gar nicht existieren. Und weshalb existierten die Lagerhäuser? Um irgendwo aus dem Norden, zum Beispiel aus Wilmington oder Norfolk, stammende Fernseher zwischenzulagern und irgendwann nach Atlanta oder Marietta zu verschicken? Um aus Atlanta stammende Kartons mit Computerzubehör zu lagern, um sie irgendwann wieder in einen Zug zu laden und nach Wilmington, Norfolk oder Jacksonville zu transportieren? Um Düngemittel oder gefährliche Chemikalien zu lagern, weil es in diesem Teil der Vereinigten Staaten kein Gesetz dagegen gab? Das Ganze drehte sich offenbar ständig im Kreis, und was sich im Kreis drehte, gelangte nie irgendwohin, das wusste jeder Trottel.

Er ging in sein Zimmer, schloss die Tür ab (was eigentlich Quatsch war, das Ding war so klapprig, dass man es mit einem einzigen Fußtritt aufsprengen konnte), zog sich bis auf die Unterwäsche aus und legte sich aufs Bett, das durchhing, aber wanzenlos war (zumindest soweit er hatte feststellen können). Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und starrte auf das Bild mit den grinsenden Schwarzen, mit denen die Fregatte – oder wie immer man so ein Schiff bezeichnete – bemannt war. Wohin sie wohl segelten? Waren es Piraten? Jedenfalls sahen sie so aus. Egal was sie waren, das Ganze lief darauf hinaus, dass sie im nächsten Hafen, den sie ansteuerten, etwas ausladen und einladen würden. Vielleicht lief es mit allem so. Und bei jedem. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich aus einem Delta-Flug nach New York ausgeladen. Anschließend hatte er Dosen und Flaschen in eine Sortiermaschine geladen. Heute hatte er für eine nette Bibliothekarin an einem Ort Bücher eingeladen und an einem anderen ausgeladen. Er war nur hier, weil die I-95 vollgeladen mit Fahrzeugen gewesen war, die darauf warteten, dass ein Abschleppwagen kam und das Wrack irgendeines bedauernswerten Zeitgenossen abtransportierte. Wahrscheinlich nachdem ein Rettungswagen den verunglückten Fahrer eingeladen und am nächsten Krankenhaus ausgeladen hatte.

Ein Nachtklopfer war jedoch nicht damit beschäftigt, ein- und auszuladen. Der ging einfach durch die Gegend und klopfte. Das war, hätte Tims Opa gesagt, das Schöne daran.

Tim schlief ein und wachte erst um Mitternacht wieder auf, als ein weiterer Güterzug vorüberrumpelte. Er ging auf die Toilette, und bevor er sich wieder ins Bett legte, nahm er das schief hängende Bild herunter und lehnte die Mannschaft aus grinsenden Männern so an die Wand, dass sie nicht mehr zu sehen war.

Das verdammte Ding machte ihn nervös.

8

Als am nächsten Morgen in seinem Zimmer das Telefon läutete, hatte Tim bereits geduscht, saß wieder in dem Gartensessel und sah zu, wie die Schatten, die sich bei Sonnenaufgang über die Straße gelegt hatten, in die andere Richtung zurückschmolzen. Es war Sheriff John, und der wollte keine Zeit vergeuden.

»Ich dachte, dass Ihre ehemalige Chefin so früh noch nicht im Büro ist, deshalb hab ich im Internet über Sie recherchiert, Mr. Jamieson. Offenbar haben Sie auf Ihrem Bewerbungsformular versäumt, ein paar Sachen zu notieren. In unserem Gespräch haben Sie die ebenfalls nicht erwähnt. 2017 wurden Sie belobigt, weil Sie jemand das Leben gerettet haben, und 2018 wurden Sie zum örtlichen Polizeibeamten des Jahres ernannt. Haben Sie das einfach vergessen?«

»Nein«, sagte Tim. »Ich habe mich spontan für den Job beworben. Wenn ich mehr Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, dann hätte ich das sicher hingeschrieben.«

»Erzählen Sie mir doch mal die Geschichte mit dem Alligator. Ich bin am Sumpf vom Little Pee Dee River aufgewachsen und liebe gute Krokodilgeschichten.«

»Richtig gut ist die nicht, weil es kein besonders großer Alligator war. Außerdem hab ich dem Jungen gar nicht das Leben gerettet, aber irgendwie lustig war die Sache trotzdem.«

»Dann lassen Sie mal hören.«

»Der Notruf kam vom Highlands, das ist ein privater Golfplatz. Ich war gerade in der Nähe. Neben einem Wasserhindernis stand ein Baum, und auf dem saß ein Junge, etwa elf oder zwölf Jahre alt. Hat gebrüllt wie am Spieß. Der Alligator war direkt unter ihm.«

»Hört sich wie die Geschichte vom kleinen schwarzen Sambo an«, sagte Sheriff John. »Nur waren es da, soweit ich mich erinnere, mehrere Tiger statt einem Alligator, und wenn sich’s um einen privaten Golfplatz gehandelt hat, war der Knabe auf dem Baum bestimmt nicht schwarz.«

»Stimmt. Und der Alligator war praktisch eingepennt. Kaum mehr als ein Meter fünfzig lang. Höchstens eins achtzig. Ich habe mir vom Vater des Jungen – der mich später für die Belobigung vorgeschlagen hat – ein Fünfer-Eisen geborgt und es ihm ein paarmal übergezogen.«

»Dem Alligator, nicht dem Vater, oder?«

Tim lachte. »Richtig. Worauf das Viech sich wieder in das Wasserhindernis verzogen hat. Der Junge ist vom Baum geklettert, und das war’s.« Er dachte einen Moment nach. »Abgesehen davon, dass ich in die Abendnachrichten gekommen bin. Mit einem Golfschläger in der Hand. Der Moderator hat mir zu meinem Abschlag gratuliert. Golfhumor, Sie wissen schon.«

»Mhm, mhm, und das mit dem Beamten des Jahres?«

»Tja«, sagte Tim. »Ich bin immer rechtzeitig zum Dienst erschienen, habe mich nie krankgemeldet, und irgendwen musste man ja auszeichnen.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte mehrere Momente Schweigen. »Ich weiß nicht, ob man so was als geziemende Bescheidenheit oder als mangelndes Selbstwertgefühl bezeichnen sollte«, sagte Sheriff John dann. »Aber egal was es ist, ich will es nicht hören. Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich bin jemand, der offen seine Meinung sagt. Was manche Leute als unüberlegt bezeichnen, meine Frau zum Beispiel.«