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An den Esstischen brach Tumult aus. Luke und Helen blieben sitzen, Helen hatte Avery den Arm um die Schultern gelegt (offenbar wollte sie damit mehr sich selbst trösten als ihn, denn er wirkte ungerührt), aber viele von den anderen Kindern versammelten sich um den auf dem Boden liegenden Jungen. »Verzieht euch, ihr Idioten!«, schnauzte Gladys, während sie einige wegstieß. Keine Spur mehr von ihrem breiten falschen Lächeln.

Nun tauchte weiteres Institutspersonal auf: Joe und Hadad, Chad, Carlos, mehrere Pfleger, die Luke nicht kannte, darunter einer in Straßenkleidung, der wohl gerade erst zum Dienst gekommen war. Der Körper von Harry hob und senkte sich mit einer zuckenden Bewegung, als wäre der Boden elektrisch geladen. Chad und Carlos pressten seine Arme auf den Boden, und Hadad versetzte ihm einen Stromstoß an den Solarplexus. Weil das die Krämpfe nicht beendete, richtete Joe seinen Schockstock auf den Hals. Das Knistern des Geräts war selbst in dem lauten Stimmengewirr zu hören. Harry erschlaffte. Unter den halb geschlossenen Lidern wölbten sich seine Augen vor, aus den Mundwinkeln quoll Schaum. Die Zungenspitze schob sich aus dem Mund.

»Dem ist nichts passiert, die Lage ist unter Kontrolle!«, brüllte Hadad. »Zurück an eure Tische! Der erholt sich schon wieder!«

Die Kinder wichen zurück, beobachteten die Szene jedoch weiter. Sie waren still geworden. Luke beugte sich zu Helen hinüber. »Ich glaube nicht, dass er noch atmet«, sagte er mit leiser Stimme.

»Vielleicht tut er’s, vielleicht auch nicht«, sagte Helen. »Aber schau mal da rüber.« Sie deutete auf den Zwilling, der an die Wand geschleudert worden war. Luke sah, dass die Augen des kleinen Mädchens glasig waren. Der Kopf hing ganz schief auf dem Hals. An einer Wange rann Blut herab und tropfte auf die Schulter.

»Wach auf!«, schrie ihre Schwester und schüttelte sie. Messer, Gabeln und Löffel erhoben sich von den Tischen und sausten durch die Luft, sodass sich die Kinder und Pfleger ducken mussten. »Wach auf, Harry wollte dir nicht wehtun, wach auf, WACH AUF!«

»Welche ist welche?«, fragte Luke Helen. Die Antwort gab Avery mit derselben gespenstisch ruhigen Stimme wie zuvor.

»Die da schreit und das Besteck durch die Gegend schmeißt, ist Gerda. Die Tote ist Greta.«

»Die ist doch nicht tot«, sagte Helen entsetzt. »Das kann sie doch nicht sein!«

Die Messer, Gabeln und Löffel stiegen bis an die Decke (das würde ich nie schaffen, dachte Luke) und fielen dann klappernd herab.

»Doch, ist sie«, sagte Avery nüchtern. »Harry auch.« Er stand auf, in einer Hand die von Helen und in der anderen die von Luke. »Ich hab Harry gemocht, obwohl er mich umgestoßen hat. Jetzt bin ich nicht mehr hungrig.« Er blickte die beiden an. »Ihr auch nicht.«

Die drei gingen unbemerkt davon, wobei sie einen großen Bogen um das schreiende Mädchen und seine tote Schwester machten. Vom Aufzug her kam Dr. Evans durch den Flur geeilt. Er sah gestresst und verärgert aus. Wahrscheinlich hatte er gerade beim Abendessen gesessen.

»Alles in Ordnung, Leute!«, hörten sie Carlos hinter sich rufen. »Setzt euch und esst zu Ende, es ist alles in bester Ordnung!«

»Die Blitze haben ihn umgebracht«, sagte Avery. »Dr. Hendricks und Dr. Evans hätten ihm die nie zeigen sollen, obwohl er ein Pink war. Vielleicht war nämlich sein BDNF trotzdem zu hoch. Oder es lag an was anderem, zum Beispiel an einer Allergie.«

»Was ist denn ein BDNF?«, fragte Helen.

»Keine Ahnung. Ich weiß bloß, dass man die starken Spritzen erst im Hinterbau kriegen sollte, wenn man einen total hohen hat.«

»Weißt du, was das ist?«, fragte Helen an Luke gewandt.

Luke schüttelte den Kopf. Kalisha hatte die Abkürzung einmal erwähnt, und auch auf seinen Streifzügen hatte er manchmal jemand davon sprechen hören. Er hatte sogar überlegt, ob er danach googeln sollte, jedoch Angst gehabt, damit einen Alarm auszulösen.

»Du hast die also auch noch nicht gekriegt, stimmt’s?«, sagte Luke zu Avery. »Die starken Spritzen, meine ich. Und die speziellen Tests.«

»Nein. Aber ich werde sie kriegen. Im Hinterbau.« Avery sah Luke ernst an. »Dr. Evans nennt die Blitze Stass-Lichter. Vielleicht kriegt er Probleme wegen dem, was er mit Harry gemacht hat. Hoffentlich kriegt er welche. Ich hab unheimliche Angst vor den Lichtern. Und vor den starken Spritzen. Vor den brutalen.«

»Ich auch«, sagte Helen. »Die Spritzen, die sie mir schon verabreicht haben, sind schlimm genug.«

Luke überlegte, ob er Helen und Avery von der Injektion erzählen sollte, bei der sich seine Kehle verkrampft hatte, und von den beiden Spritzen, nach denen er sich erbrochen hatte (mit den verdammten Blitzen vor den Augen), aber verglichen mit dem, was gerade mit Harry geschehen war, kam ihm das ziemlich belanglos vor.

»Macht Platz, Leute«, sagte Joe.

Sie drückten sich in der Nähe des Posters mit der Aufschrift ENTSCHIEDEN GLÜCKLICH! an die Wand, damit Joe und Hadad mit der Leiche von Harry Cross vorbeigehen konnten. Dahinter kam Carlos, der das kleine Mädchen mit dem gebrochenen Hals trug. Ihr Kopf baumelte über seinem Arm hin und her, die Haare hingen herab. Die drei blickten der Prozession hinterher, bis sie im Aufzug verschwand. Luke fragte sich unwillkürlich, ob sich die Leichenkammer wohl auf Ebene E oder auf Ebene F befand.

»Sie sah aus wie eine Puppe«, hörte Luke sich sagen. »Wie ihre eigene Puppe.«

Avery, bei dessen ebenso gespenstischer wie rätselhafter Ruhe es sich offenbar um ein Schocksymptom gehandelt hatte, begann zu weinen.

»Ich gehe in mein Zimmer«, sagte Helen. Sie klopfte Luke auf die Schulter und gab Avery einen Kuss auf die Wange. »Morgen sehen wir uns wieder.«

Nur kam es nicht dazu. In der Nacht kamen die Männer in der roten Uniform, und sie sahen Helen nicht wieder.

6

Avery pinkelte, putzte sich die Zähne, zog den Schlafanzug an, den er inzwischen immer in Lukes Zimmer liegen ließ, und stieg ins Bett. Luke erledigte die eigene Badezimmerprozedur, legte sich zu dem Avester und schaltete das Licht aus. Dann legte er die Stirn an die von Avery und flüsterte: »Ich muss hier raus.«

Wie?

Das Wort wurde nicht ausgesprochen, sondern leuchtete kurz in Lukes Kopf auf, um dann zu verblassen. Inzwischen gelang es ihm ein bisschen besser, solche Gedanken einzufangen, aber nur wenn Avery ganz in der Nähe war, und manchmal schaffte er es überhaupt nicht. Die farbigen Punkte – die man laut Avery als Stass-Lichter bezeichnete – hatten ihm gewisse TP-Fähigkeiten verliehen, aber nicht besonders viele. Genau wie seine TK nie besonders stark gewesen war. Auch wenn er einen noch so fantastischen IQ hatte, waren seine paranormalen Fähigkeiten ziemlich beschränkt. Wenn ich bloß mehr davon hätte, dachte er, worauf ihm einer von den alten Sprüchen seines Großvaters einfieclass="underline" Wenn Schweine fliegen könnten…

»Das weiß ich nicht«, flüsterte Luke. Er wusste nur, dass er sich schon sehr lange an diesem Ort befand – länger als Helen, und die war fort. Bald würden sie ihn holen kommen.

7

Mitten in der Nacht wurde Luke von Avery aus einem Traum über Greta Wilcox gerüttelt – die hatte mit total verdrehtem Kopf an der Wand gelegen. Es war ein Traum, den er nicht ungern hinter sich ließ. Der Avester drückte sich so eng an ihn, dass Luke seine Knie und seine spitzen Ellbogen spürte, und er zitterte wie Espenlaub. Luke schaltete die Nachttischlampe an. In Averys Augen standen Tränen.

»Was ist denn?«, fragte Luke. »Böser Traum?«

»Nein. Die haben mich aufgeweckt.«