»Wer?« Luke blickte sich um, aber es war niemand im Zimmer, und die Tür war zu.
»Sha. Und Iris.«
»Du kannst also auch Iris hören, nicht nur Sha?« Das war etwas Neues.
»Vorher konnte ich das nicht, aber… sie haben die Filme gesehen, dann die Blitze, dann die Wunderkerze, und dann haben sie sich alle umarmt und die Köpfe zusammengesteckt, das hab ich dir doch erzählt…«
»Hast du.«
»Normalerweise ist es nachher besser, die Kopfschmerzen gehen eine Zeit lang weg, aber diesmal sind die von Iris wiedergekommen, sobald die Umarmung vorbei war, und es war so schlimm, dass sie angefangen hat zu schreien, und jetzt hört sie einfach nicht mehr auf!« Averys Stimme wurde lauter als gewöhnlich und zitterte auf eine Weise, bei der es Luke eiskalt wurde. »Mein Kopf, mein Kopf, der platzt gleich, ach, mein armer Kopf, mach, dass es aufhört, bitte mach, dass es…«
Luke schüttelte Avery heftig. »Sei leise! Wahrscheinlich belauschen sie uns.«
Avery holte ein paarmal tief Luft. »Wenn du mich in deinem Kopf hören könntest wie Sha, dann könnte ich dir alles erzählen. Es laut zu sagen ist total schwer für mich.«
»Versuch’s.«
»Sha und Nicky haben versucht, sie zu beruhigen, haben’s aber nicht geschafft. Sie hat Sha gekratzt und mit der Faust nach Nicky geschlagen. Dann ist Dr. Hendricks gekommen – er war noch in seinem Schlafanzug – und hat die roten Männer gerufen. Die sollten Iris wegschaffen.«
»In den hinteren Teil vom Hinterbau?«
»Glaub ja. Aber dann ist es ihr langsam besser gegangen.«
»Vielleicht haben sie ihr ein Schmerzmittel gegeben. Oder ein Beruhigungsmittel.«
»Das glaub ich nicht. Ich glaub, es ist ihr einfach so besser gegangen. Ob Kalisha ihr wohl geholfen hat?«
»Mich brauchst du da nicht fragen«, sagte Luke. »Woher soll ich das wissen?«
Avery hörte gar nicht zu. »Vielleicht gibt’s eine Chance zu helfen. Eine Chance, wie sie…« Er verstummte, und Luke dachte schon, er würde wieder einschlafen, doch dann regte er sich und sagte: »Da drüben läuft was total Schlimmes.«
»Alles, was da drüben läuft, ist schlimm«, sagte Luke. »Die Filme, die Spritzen, die Blitze… alles schlimm.«
»Ja, aber da ist noch was anderes. Was Schlimmeres. Ich glaub… weiß nicht…«
Luke legte seine Stirn an die von Avery und lauschte so angestrengt, wie er konnte. Was er auffing, war das Geräusch eines Flugzeugs, das hoch am Himmel vorüberzog. »Ein Geräusch? So eine Art Summen?«
»Ja! Aber nicht wie von ’nem Flugzeug. Mehr wie ein Bienenstock. Ich glaub, das kommt von der hinteren Hälfte vom Hinterbau.«
Avery legte sich anders hin. Im Licht der Lampe sah er nicht mehr wie ein Kind aus, sondern wie ein sorgenvoller alter Mann. »Das Kopfweh von denen wird immer schlimmer und dauert immer länger, weil man sie ständig zwingt, auf die farbigen Punkte zu schauen… die Lichter, du weißt schon… und man gibt ihnen immer mehr Spritzen und lässt sie die Filme anschauen.«
»Und die Wunderkerze«, sagte Luke. »Die zeigen sie ihnen auch, weil das der Trigger ist.«
»Was meinst du damit?«
»Nichts. Schlaf wieder ein.«
»Ich glaub, das geht nicht.«
»Versuch’s.«
Luke legte die Arme um Avery und blickte an die Zimmerdecke. Er dachte an einen alten, bluesigen Song, den seine Mutter manchmal gesungen hatte: I was yours from the start, you took my heart. You got the best, so what the hell, come on, baby, take the rest.
Luke war sich zunehmend sicher, dass die Kids genau dafür hier waren: Damit man ihnen das Beste wegnahm. Man benutzte sie als Waffe, und zwar so lange, bis sie völlig leer waren. Dann kamen sie in die hintere Hälfte vom Hinterbau, hinein in das Summen… was immer das auch war.
So etwas kann es doch gar nicht geben, sagte er sich. Nur würden die Leute auch sagen, so was wie das Institut könne es nicht geben, jedenfalls nicht in Amerika, und falls doch, würde es ans Tageslicht kommen, weil man heutzutage nichts mehr geheim halten könne; es werde ja so viel geplappert. Dennoch war er hier. Er und die anderen. Die Erinnerung daran, wie Harry Cross mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden des Aufenthaltsraums herumgezuckt hatte, war schlimm, der Anblick des harmlosen kleinen Mädchens, das mit schief hängendem Kopf und glasigen Augen in die Leere gestarrt hatte, war noch schlimmer gewesen, aber nichts, was er sich vorstellen konnte, war so schrecklich wie ein menschlicher Geist, der unablässig vergewaltigt wurde, bis er schließlich zum Teil eines bienenstockartigen Summens geworden war. Laut Avery war das in dieser Nacht beinahe mit Iris geschehen, und bald würde es mit Nicky geschehen, dem Schwarm aller Mädchen, und mit dem ständig witzelnden George.
Und mit Kalisha.
Schließlich schlief Luke ein. Als er aufwachte, war das Frühstück schon lange vorbei, und er lag allein im Bett. Er stürmte durch den Flur ins Zimmer von Avery, weil er zu wissen glaubte, was aus ihm geworden war, aber die Poster des Avesters hingen noch an der Wand, und seine Actionfiguren standen noch auf der Kommode, an diesem Morgen in einer Schützenlinie angeordnet.
Luke atmete erleichtert aus, doch dann zuckte er zusammen, weil ihm jemand einen heftigen Klaps auf den Hinterkopf verpasste. Als er sich umdrehte, sah er Winona (Familienname: Briggs) vor sich stehen. »Zieh dir was an, junger Mann. Ich hab kein Interesse, ein männliches Geschöpf in Unterwäsche zu sehen, falls es nicht mindestens zweiundzwanzig und durchtrainiert ist. Was du bekanntlich beides nicht bist.«
Sie wartete darauf, dass er sich in Bewegung setzte. Luke reckte den Mittelfinger (okay, das tat er versteckt an der Brust, anstatt ihn zu heben, aber es fühlte sich trotzdem gut an) und kehrte in sein Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Auf dem Weg sah er ganz hinten, wo der Flur in den nächsten überging, einen Wäschewagen stehen. Der hätte Jolene oder einer von den anderen Haushälterinnen gehören können, die aufgetaucht waren, um mit dem aktuellen Ansturm von »Gästen« fertigzuwerden, aber er wusste, dass es der von Maureen war. Er konnte sie spüren. Sie war wieder da.
8
Als Luke sie eine Viertelstunde später sah, dachte er: Die Frau ist kränker denn je.
Sie war damit beschäftigt, das Zimmer der Zwillinge auszuräumen. Gerade nahm sie die Poster mit Disney-Prinzen und -Prinzessinnen von den Wänden und verstaute sie sorgfältig in einem Pappkarton. Die Betten der kleinen Mädchen waren bereits abgezogen; die Laken lagen in dem Wagen bei der anderen schmutzigen Wäsche, die Maureen eingesammelt hatte.
»Wo ist Gerda?«, fragte Luke. Er hätte auch gern gewusst, wo Greta und Harry waren, ganz zu schweigen von allen anderen, die womöglich als Folge dieser schwachsinnigen Experimente gestorben waren. Ob es in diesem Höllenloch wohl irgendwo ein Krematorium gab? Vielleicht ganz unten auf Ebene F? Falls ja, musste es mit hochmodernen Filtern ausgerüstet sein, sonst hätte er den Rauch von brennenden Kindern gerochen.
»Stell mir keine Fragen, dann lüg ich dich auch nicht an. Raus hier, Junge, kümmre dich um deinen eigenen Kram.« Ihre Stimme war scharf, trocken und herablassend, aber das war reine Schau. Selbst drittklassige Telepathie konnte nützlich sein.
Luke holte sich aus der Obstschale im Aufenthaltsraum einen Apfel, dann zog er eine Packung Zuckerzigaretten (RAUCH WIE DEIN DADDY) aus dem Automaten. Beim Anblick der Zigaretten vermisste er Kalisha, fühlte sich ihr jedoch zugleich nahe. Er spähte hinaus auf den Spielplatz, wo acht oder zehn Kinder zugange waren – eine ganz schöne Truppe, verglichen mit der Zeit, wo er angekommen war. Auf einem der Schaumstoffpolster rings um das Trampolin saß Avery, den Kopf auf der Brust. Er hatte die Augen geschlossen, offenbar schlief er tief und fest. Das überraschte Luke wenig. Der kleine Scheißer hatte eine schwere Nacht gehabt.