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Jemand schlug ihn auf die Schulter, fest, aber nicht unfreundlich. Als er sich umdrehte, stand da Stevie Whipple, einer von den neuen Kids. »Mann, das war wirklich übel gestern Abend«, sagte er. »Du weißt schon, das mit dem großen rothaarigen Typ und dem kleinen Mädchen.«

»Das kannst du laut sagen.«

»Und dann sind heute Morgen auch noch Männer in roten Klamotten gekommen und haben dieses Punkgirl in den Hinterbau gebracht.«

Luke sah ihn bestürzt an. »Helen?«

»Genau die«, sagte Stevie und starrte auf den Spielplatz hinaus. »Hier ist es wirklich beschissen. Ich wünsch mir so was wie Düsenstiefel. Dann wäre ich schneller weg, als du gucken kannst.«

»Düsenstiefel und eine Bombe«, sagte Luke.

»Hä?«

»Um den Scheiß in die Luft zu sprengen, bevor du wegfliegst.«

Während Stevie darüber nachdachte, erschlaffte sein Mondgesicht, dann lachte er. »Echt gut. Ja, erst alles in Grund und Boden bomben und dann schleunigst mit den Stiefeln abdüsen. He, du hast nicht zufällig ’ne Münze übrig? Um die Zeit krieg ich nämlich immer Hunger, und Äpfel mag ich nicht besonders. Ich steh mehr auf Twix. Oder auf Zwiebelringe. Das ist was Feines.«

Luke, der, während er fleißig seinen Ruf als braver Junge polierte, viele Münzen bekommen hatte, gab Stevie Whipple drei davon ab und ermutigte ihn, am Automaten ordentlich zuzuschlagen.

9

In Erinnerung an seine erste Begegnung mit Kalisha, vielleicht auch um diese Begegnung zu feiern, ging Luke nach hinten, setzte sich neben den Eiswürfelspender und steckte sich eine von den Zuckerzigaretten in den Mund. Er war schon bei der zweiten, als Maureen mit ihrem Wäschewagen, der jetzt mit frischen Laken und Kissenhüllen gefüllt war, angezuckelt kam.

»Wie geht es Ihrem Rücken?«, fragte Luke.

»Schlimmer denn je.«

»Das tut mir leid. Scheußlich, so was.«

»Ich hab ja meine Pillen. Die helfen.« Sie bückte sich und legte die Hände auf die Schienbeine, wodurch ihr Gesicht nah an das von Luke kam.

»Sie haben meine Freundin Kalisha mitgenommen«, flüsterte er. »Nicky und George auch. Und Helen, gerade heute Morgen.« Die meisten seiner Freunde waren fort. Und wer war zum Veteranen des Vorderbaus geworden? Tja, niemand anderes als Luke Ellis.

»Ich weiß«, sagte sie, ebenfalls flüsternd. »Bin ja im Hinterbau gewesen. Wir können uns nicht mehr hier treffen, um miteinander zu reden. Sonst schöpfen sie Verdacht.«

Das klang logisch, dennoch war etwas merkwürdig daran. Wie Joe und Hadad unterhielt sich Maureen dauernd mit den Kindern und überreichte ihnen Münzen, wenn das angebracht war. Und gab es nicht noch andere Orte, tote Zonen, wo die Audioüberwachung nicht hinreichte? Jedenfalls hatte Kalisha das gedacht.

Maureen richtete sich auf, dehnte sich und stemmte die Hände ins Kreuz. »Willst du eigentlich den ganzen Tag da sitzen?«, sagte sie mit normaler Stimme.

Luke sog die Zuckerzigarette, die ihm von der Unterlippe hing, in den Mund, zerkaute sie und erhob sich.

»Wart mal, ich hab was für dich.« Sie zog eine Münze aus der Tasche ihrer Uniform und reichte sie ihm. »Kauf dir was Leckeres!«

Luke schlenderte in sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Dann drehte er sich auf die Seite und entfaltete den Zettel, den Maureen ihm zusammen mit der Münze in die Hand gedrückt hatte. Ihre Handschrift war zittrig und altmodisch, aber das war nicht der einzige Grund, weshalb sie schwer zu lesen war. Die Buchstaben waren wirklich winzig. Maureen hatte den Zettel auf einer Seite komplett von links nach rechts und von oben nach unten vollgekritzelt, die Rückseite war nicht mehr ganz so voll. Bei dem Anblick musste Luke an etwas denken, was Mr. Sirois im Englischunterricht über die besten Kurzgeschichten von Ernest Hemingway gesagt hatte: Sie sind Wunder an Verdichtung. Das galt auch für diese Mitteilung. Wie viele Entwürfe Maureen wohl gebraucht hatte, um das, was sie ihm sagen musste, aufs Wesentliche zu beschränken und auf ein kleines Stück Papier zu schreiben? Er bewunderte sie dafür, auch dann noch, als er langsam begriff, was sie getan hatte. Was sie war.

Luke, Du musst diesen Zettel vernichten, sobald du ihn gelesen hast. Es ist, als hätte Gott dich mir als letzte Chance geschickt, damit ich manches Unrecht, das ich getan hab, wiedergutmachen kann. Ich hab mit Leah Fink aus Burlington gesprochen. Alles, was du gesagt hast, stimmt, und das mit meinen Schulden kommt in Ordnung. Mit mir wird’s leider nichts mehr, weil meine Rückenschmerzen das sind, was ich befürchtet hab. ABER da meine gesparten $$$ jetzt sicher sind, hab ich mir alles auszahlen lassen. Ich hab eine Möglichkeit, es meinem Sohn zu schicken, damit er aufs College gehen kann. Er wird nie erfahren, dass es von mir kommt u. ich will es so. Ich schulde dir so viel!! Luke, du musst hier raus, sonst kommst du bald in den Hinterbau. Du bist ein „Pink“, und wenn sie keine Tests mehr mit dir machen, hast du vielleicht bloß noch 3 Tage. Ich muss dir was geben und dir allerhand Wichtiges sagen, aber ich weiß nicht wie, bloß am Eisspender ist es sicher u. da sind wir schon zu oft gewesen. Es geht mir nicht um mich, aber ich will nicht, dass du deine einzige Chance versäumst. Wenn ich bloß nicht getan hätte, was ich getan hab, oder nie an diesen Ort gekommen wär. Ich dachte nur an das Kind, das ich weggegeben hab, aber das ist keine Entschuldigung. Jetzt ist es zu spät. Wär besser, wenn wir uns nicht am Eisspender treffen, aber vielleicht müssen wir’s riskieren. BITTE vernichte diesen Zettel, Luke, und SEI VORSICHTIG, nicht wegen mir, mein Leben ist bald vorüber, sondern wegen dir selbst. DANKE, DASS DU MIR GEHOLFEN HAST. Maureen A.

Maureen war also ein Spitzel; sie plauderte mit den Kids an Orten, die angeblich sicher waren, und lief dann mit dem, was man ihr zugeflüstert hatte, zu Sigsby (oder Stackhouse). Vielleicht war sie da nicht die Einzige; die beiden freundlichen Pfleger, Joe und Hadad, verpfiffen die Kinder womöglich ebenfalls. Im Juni hätte Luke Maureen dafür gehasst, aber jetzt war es Juli, und er war wesentlich älter geworden.

Er ging ins Bad und ließ den Zettel von Maureen in die Kloschüssel fallen, während er die Hosen herunterließ. So wie damals die Botschaft von Kalisha. Das kam ihm hundert Jahre her vor.

10

An diesem Nachmittag organisierte Stevie Whipple ein Völkerballspiel. Während die meisten Kinder mitspielten, lehnte Luke dankend ab. Zum Andenken an Nicky holte er das Schachbrett aus dem Spieleschrank und spielte die Partie nach, die von vielen für die beste aller Zeiten gehalten wurde: Jakow Estrin gegen Hans Berliner, Kopenhagen 1965. Zweiundvierzig Züge, ein Klassiker. Er sprang hin und her, Weiß-Schwarz, Weiß-Schwarz, Weiß-Schwarz. Seine Erinnerung führte die Figuren, während seine Gedanken sich hauptsächlich mit der Botschaft von Maureen beschäftigten.

Die Vorstellung, dass Maureen ihn bespitzelt hatte, war ihm zuwider, aber er begriff ihre Gründe. Es gab noch andere Leute hier, denen wenigstens ein Rest Anstand geblieben war, aber wenn man an einem solchen Ort arbeitete, ging der moralische Kompass in die Brüche. Dann war man verdammt, ob man es nun wusste oder nicht. Maureen war das vielleicht ebenfalls. So oder so, von Interesse war jetzt lediglich, ob sie wirklich wusste, wie er hier herauskam. Wenn ja, musste sie ihm Informationen übermitteln, ohne den Verdacht von Mrs. Sigsby und diesem Stackhouse (Vorname: Trevor) zu erregen. Damit verknüpft war die Frage, ob man ihr vertrauen konnte. Luke fand, man konnte. Nicht nur weil er ihr in einer Notlage geholfen hatte, sondern auch weil ihre Botschaft einen verzweifelten Ton hatte, den Ton einer Frau, die beschlossen hatte, alles auf eine Karte zu setzen. Außerdem – welche andere Wahl hatte er denn?