»Okay! Okay, ich bin ein Telep!«
»Super!«, rief Zeke. »Wir machen Fortschritte! An welche Zahl denke ich gerade?«
Auf dem Kneipenschild stand: 17.
»Sechs«, sagte Luke.
Zeke machte ein Geräusch wie der Buzzer bei einer Quizshow. »Tut mir leid, es war siebzehn. Diesmal sind es zwei Minuten.«
»Nein! Das schaffe ich nicht! Bitte!«
»Das ist das letzte Mal«, sagte Dave leise.
Zeke rempelte seinen Kollegen so heftig mit der Schulter an, dass der fast umkippte. »Erzähl ihm nichts, was vielleicht nicht stimmt!« Er sah Luke an. »Ich lass dir dreißig Sekunden Zeit, dich vollzupumpen, dann tauchst du unter. Stell dir vor, du bist bei der Olympiade, Kleiner.«
Gezwungenermaßen atmete Luke schnell ein und aus, aber schon lange bevor er im Kopf bis dreißig zählen konnte, packte die Hand von Zeke ihn an den Haaren und stieß ihn nach unten.
Luke öffnete die Augen und starrte auf die weiße Wand des Tanks. An mehreren Stellen war die Farbe abgekratzt, vielleicht von den Fingernägeln anderer Kinder, die man dieser strikt für Pinks reservierten Folter unterzogen hatte. Und weshalb? Das war ziemlich offensichtlich. Weil Hendricks und Evans meinten, man könne die Bandbreite an paranormalen Talenten erweitern, und weil Pinks entbehrlich waren.
Ruhig, ganz ruhig, dachte er. Ruhig, ruhig, ruhig.
Obwohl er sein Bestes tat, in einen meditativen Zustand zu kommen, verlangte seine Lunge irgendwann doch wieder Luft. Schließlich brach sein meditativer Zustand, der ohnehin nicht besonders meditativ gewesen war, vollständig in sich zusammen, weil ihm der Gedanke kam, dass man ihn – wenn er das jetzt überlebte – zwingen würde, zwei Minuten und fünfzehn Sekunden unterzutauchen, dann zweieinhalb Minuten und dann…
Er begann zu zappeln. Zeke hielt ihn unter Wasser. Luke setzte die Füße auf den Boden, drückte sich ab und schaffte es beinahe an die Oberfläche, aber Zeke nahm seine andere Hand zu Hilfe und zwang ihn wieder nach unten. Dann waren wieder die farbigen Punkte da, sie blitzten vor seinen Augen auf, jagten auf ihn zu, zogen sich zurück, jagten wieder auf ihn zu. Sie fingen an, um ihn herumzuwirbeln wie ein verrückt gewordenes Karussell. Die Stass-Lichter, dachte Luke. Ich werde ertrinken, während ich die…
Zeke zerrte ihn an den Haaren nach oben. Sein blauer Kasack war durchnässt. Er sah Luke direkt in die Augen. »Ich werde dich wieder untertauchen, Luke. Wieder und wieder und wieder. Ich tauche dich unter, bis du ertrinkst, dann werden wir dich wiederbeleben und wieder ertrinken lassen und noch mal wiederbeleben. Letzte Chance: An welche Zahl denke ich?
»Das weiß…« Luke spuckte würgend Wasser aus. »… ich nicht!«
Zeke behielt seinen starren Blick etwa fünf Sekunden bei. Luke hielt stand, obwohl ihm Tränen aus den Augen liefen. »Schluss mit dem Scheiß, und fick dich, Kumpel«, sagte Zeke schließlich. »Dave, trockne ihn ab, und schick ihn nach oben zurück. Ich will sein beschissenes kleines Gesicht nicht mehr sehen.«
Er ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Luke taumelte aus dem Tank, stolperte und wäre um ein Haar der Länge nach hingeschlagen. Dave hielt ihn fest und reichte ihm ein Handtuch, mit dem Luke sich abtrocknete. Dann schlüpfte er in seine Klamotten, so schnell er konnte. Er wollte schleunigst weg von diesem Mann und diesem Ort, aber obwohl er sich halb tot fühlte, meldete sich seine Neugier. »Wieso ist das so wichtig?«, fragte er. »Wieso ist es so wichtig, wenn es nicht mal das ist, wofür wir hier sind?«
»Woher willst du wissen, wofür ihr hier seid?«, fragte Dave.
»Weil ich nicht bescheuert bin, deshalb.«
»Du solltest lieber die Klappe halten, Luke«, sagte Dave. »Ich mag dich, aber das heißt noch lange nicht, dass ich hören will, wie du irgendwelchen Mist plapperst.«
»Egal wozu die Blitze gut sind, es hat absolut nichts damit zu tun, ob ich beides bin, TP und TK. Was tut ihr hier eigentlich? Habt ihr auch nur die leiseste Ah…«
Dave holte zu einer gewaltigen Ohrfeige aus, die Luke von den Beinen riss. Er spürte, wie das auf den gefliesten Boden gelaufene Wasser ins Hinterteil seiner Jeans sickerte. »Ich bin nicht dazu da, deine Fragen zu beantworten«, sagte Dave und bückte sich zu Luke hinunter. »Wir wissen, was du tust, du Klugscheißer! Wir wissen genau, was du tust!« Und während er Luke hochzerrte: »Letztes Jahr hatten wir einen, der dreieinhalb Minuten geschafft hat. Der war zwar extrem nervig, aber wenigstens hatte er Mumm!«
12
Als Avery mit besorgter Miene in sein Zimmer kam, bat Luke ihn, wieder zu gehen, er wolle eine Weile allein sein.
»Es war schlimm, stimmt’s?«, sagte Avery. »Der Wassertank. Es tut mir leid, Luke.«
»Danke. Geh jetzt. Wir reden später.«
»Okay.«
Avery ging hinaus und zog rücksichtsvoll die Tür hinter sich zu. Luke legte sich auf den Rücken und versuchte, nicht ständig an die endlosen Minuten zu denken, die er untergetaucht gewesen war, dachte jedoch trotzdem daran. Er wartete darauf, dass die Lichter wieder auftauchten, dass sie hüpfend durch sein Blickfeld rasten, sich im Kreis drehten und schwindelerregende Wirbel bildeten. Weil das nicht geschah, beruhigte er sich allmählich. Ein Gedanke überlagerte alle anderen, selbst seine Furcht, dass die Lichter doch wiederkamen… und diesmal nicht mehr verschwanden.
Raus. Ich muss hier raus. Und wenn ich das nicht schaffe, muss ich sterben, bevor sie mich in den Hinterbau bringen und benutzen, bis sie mich aufgebraucht haben.
13
Seit Ende Juni war die schlimmste Mückenplage vorüber, weshalb Dr. Hendricks sich vor dem Verwaltungsgebäude mit Zeke Ionidis traf. Dort stand unter einer Schatten spendenden Eiche eine Bank. In der Nähe erhob sich ein Fahnenmast, an dem das Sternenbanner in der leichten Sommerbrise träge vor sich hin flatterte. Auf dem Schoß hatte Dr. Hendricks die Akte von Luke liegen.
»Sie sind sich da sicher, ja?«, sagte er zu Zeke.
»Absolut. Ich hab den kleinen Scheißer bestimmt fünf- oder sechsmal getunkt, jedes Mal fünfzehn Sekunden länger, genau wie Sie’s mir aufgetragen haben. Wenn der Gedanken lesen könnte, hätte er’s getan, da können Sie Gift drauf nehmen. So was würde nicht mal ein Navy-SEAL aushalten, geschweige denn ein Kind, das kaum alt genug ist, mehr als sechs Haare an den Eiern zu haben.«
Damit schien Hendricks sich erst nicht zufriedengeben zu wollen, doch dann seufzte er und schüttelte den Kopf. »Na gut. Damit kann ich leben. Wir sind momentan ganz gut mit Pinks ausgestattet, und es sind weitere angekündigt. Ein Luxusproblem. Trotzdem ist es enttäuschend. Ich hatte einige Hoffnung in den Jungen gesetzt.«
Er klappte die Akte mit dem kleinen rosa Punkt in der oberen rechten Ecke zu, dann holte er einen Kugelschreiber aus der Tasche und zog eine diagonale Linie quer über die erste Seite. »Wenigstens ist er gesund. Evans hat ihn durchgecheckt. Dieses nervige Mädchen – Benson – hat ihn nicht mit ihren Windpocken infiziert.«
»War er dagegen denn nicht geimpft?«, fragte Zeke.
»Doch, aber sie hat sich die größte Mühe gegeben, Speichel mit ihm auszutauschen, und sie hatte eine ziemlich schwere Infektion. Da wollten wir kein Risiko eingehen. Nein, nein. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«
»Wann kommt er dann in den Hinterbau?«
Hendricks setzte ein schmales Lächeln auf. »Sie können’s wohl kaum erwarten, ihn loszuwerden, was?«
»Stimmt«, sagte Zeke. »Mag sein, dass die kleine Benson ihn nicht mit Windpocken angesteckt hat, aber dafür hat Wilholm ihm seine Leck-mich-Haltung hinterlassen.«