Ja, das wusste Mrs. Sigsby bestens. Es lag nicht an der mangelnden finanziellen Ausstattung, sondern daran, dass es ihnen nicht gelang, sich Unterstützung von außen zu holen. Eine typische Zwickmühle. Das Institut musste streng geheim bleiben, was im Zeitalter der sozialen Medien immer schwieriger wurde, von Hackern ganz zu schweigen. Wenn auch nur eine winzige Information darüber, was sie hier taten, nach außen drang, wäre das der Todesstoß. Nicht nur für die ungemein wichtige Arbeit, die sie leisteten, sondern auch für das Personal. Das machte es schwer, Leute einzustellen und die für den Betrieb notwendigen Waren zu besorgen. Reparaturen waren ein Albtraum.
»Das Flimmern wird durch Küchengeräte verursacht«, fuhr er fort. »Mixer, Abfallzerkleinerer, Mikrowellen. Was das angeht, kann ich eventuell was unternehmen.«
»Vielleicht können Sie sogar was im Hinblick auf die Gehäuse unternehmen, in denen die Kameras stecken. Etwas technisch völlig Anspruchsloses. Soweit ich weiß, nennt man es Abstauben. Ein paar Hausmeister haben wir ja immerhin.«
Stackhouse warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Schon gut, Trevor. Ich hab’s kapiert.« Sie ließ das Video wieder laufen. Maureen Alvorson tauchte mit ihrem Wäschewagen auf. Begleitet wurde sie von zwei Insassen. Der eine war Luke Ellis, der andere Avery Dixon, der außergewöhnliche TP-pos, der inzwischen meistens bei Ellis schlief. Die Bildqualität war minderwertig, der Ton jedoch gut.
»Hier können wir miteinander sprechen«, sagte Maureen zu den beiden Jungen. »Da oben ist zwar ein Mikrofon, aber das funktioniert schon jahrelang nicht mehr. Setzt einfach ein nettes Lächeln auf. Falls jemand sich das Video anschauen sollte, wird er denken, dass ihr mir ein paar Münzen abluchsen wollt. Also, was habt ihr auf dem Herzen? Aber kurz und bündig!«
Eine Pause entstand. Der kleinere Junge kratzte sich am Arm, kniff sich mit den Fingern in die Nase und sah Ellis an. Dixon war also nur mitgekommen; das Ganze ging von Ellis aus. Was Stackhouse nicht weiter wunderte, denn Ellis war ein cleveres Bürschchen. Ein Schachspieler.
»Tja«, sagte Ellis. »Es geht darum, was neulich beim Abendessen passiert ist. Mit Harry und den Zwillingen. Das geht uns im Kopf rum.«
Maureen seufzte und stützte sich auf ihren Wäschewagen. »Davon hab ich gehört. Ziemlich schlimm, aber soweit man mir gesagt hat, geht es allen wieder gut.«
»Echt? Allen dreien?«
Maureen schwieg einen Moment. Dixon starrte ängstlich zu ihr hinauf; er kratzte sich an den Armen, kniff sich in die Nase und sah ganz allgemein so aus, als müsste er dringend pinkeln. »Na ja, jetzt vielleicht noch nicht«, sagte sie schließlich. »Jedenfalls noch nicht ganz. Ich hab Dr. Evans sagen hören, dass man sie auf die Krankenstation im Hinterbau gebracht hat. Dort werden sie gut versorgt.«
»Was haben Sie sonst noch…«
»Still!« Sie hob die Hand, um Ellis zum Schweigen zu bringen, und blickte sich um. Das Bild flimmerte, aber der Ton blieb deutlich hörbar. »Fragt mich nicht nach dem Hinterbau. Darüber darf ich nichts sagen, außer dass es wirklich schön da ist, schöner als hier im Vorderbau, und nachdem die Jungen und Mädchen dort einige Zeit verbracht haben, kommen sie wieder nach Hause.«
Als das Bild wieder besser sichtbar wurde, hatte sie die Arme um die beiden gelegt und zog sie nah zu sich heran. »Sehen Sie sich das an«, sagte Stackhouse bewundernd. »Wie Mutter Courage. Die ist richtig gut.«
»Pst!«, machte Mrs. Sigsby.
Ellis fragte Maureen, ob sie sich absolut sicher sei, dass Harry und Greta am Leben waren. »Die sahen nämlich… äh… tot aus.«
»Ja, das sagen alle Kinder«, stimmte Dixon zu, kniff sich in die Nase und schnäuzte sich lautstark. »Harry ist ausgetickt und hat nicht mehr geatmet. Und der Kopf von Greta hat ganz krumm und schief auf dem Hals gesessen.«
Maureen gab keine übereilte Antwort; Stackhouse sah, dass sie ihre Worte sorgfältig wählte. An einem Ort, wo das Sammeln von Geheiminformationen tatsächlich von Belang gewesen wäre, hätte sie wohl eine anständige Geheimagentin abgegeben. Die beiden Jungen blickten erwartungswohl zu ihr hinauf.
»Natürlich war ich nicht dabei«, sagte sie schließlich. »Und es war bestimmt schrecklich für euch, aber ich glaube, es hat wesentlich schlimmer ausgesehen, als es war.« Wieder hielt sie inne, doch nachdem Dixon sich abermals nervös in die Nase gekniffen hatte, sprach sie weiter. »Falls Harry Cross einen Krampfanfall hatte – ich sagte falls–, gibt man ihm bestimmt die richtigen Medikamente. Und was Greta angeht… als ich am Pausenraum vorübergekommen bin, hab ich gehört, wie Dr. Evans zu Dr. Hendricks gesagt hat, dass sie sich den Hals verrenkt hat. Wahrscheinlich hat man ihr eine Halskrause verpasst. Bestimmt ist ihre Schwester bei ihr. Um sie zu trösten, wisst ihr?«
»Okay«, sagte Ellis erleichtert. »Falls Sie sich da wirklich sicher sind.«
»So sicher, wie ich mir sein kann, mehr kann ich dir nicht sagen, Luke. Hier wird ziemlich viel gelogen, aber meine Eltern haben mir beigebracht, dass man niemand anlügen soll, vor allem Kinder nicht. Deshalb kann ich bloß sagen, dass ich mir so sicher bin, wie es eben geht. Aber wieso ist das eigentlich so wichtig? Weil ihr euch Sorgen um eure Freunde macht, oder geht’s noch um was anderes?«
Ellis sah Dixon an, der diesmal richtig an seiner Nase zerrte und dann nickte.
Stackhouse verdrehte die Augen. »Du lieber Himmel, Kleiner, wenn du dir in der Nase bohren willst, dann tu es endlich! Das Vorspiel macht mich kirre.«
Mrs. Sigsby stoppte das Video. »Das ist eine Geste, mit der man sich selbst beruhigt. Besser, als wenn er sich in den Schritt greifen würde, was ich im Lauf der Jahre gar nicht so selten gesehen habe, bei Mädchen wie bei Jungen. Still jetzt! Es wird nämlich interessant.«
»Wenn ich Ihnen was verrate, versprechen Sie dann, dass Sie’s für sich behalten?«, fragte Ellis.
Maureen überlegte, während Dixon damit fortfuhr, seinen armen Zinken zu malträtieren. Dann nickte sie.
Ellis senkte die Stimme. Mrs. Sigsby drehte die Lautstärke hoch.
»Manche von den Kids reden darüber, in den Hungerstreik zu treten. Kein Essen mehr, bis wir sicher wissen, dass es den Zwillingen und Harry gut geht.«
»Welche Kids sind das?«, fragte Maureen leise.
»Das weiß ich nicht genau«, sagte Ellis. »Ein paar von den Neuen.«
»Sag denen, dass das eine ganz schlechte Idee wäre. Du bist ein kluger Junge, Luke, ein sehr kluger, und daher weißt du sicher, was das Wort Repressalien bedeutet. Avery kannst du das später erklären.« Sie richtete den Blick auf den kleinen Jungen, der sich aus ihrem Arm löste und schützend die Hand auf seine Nase legte, als hätte er Angst, dass sie die packen und abreißen würde. »Jetzt muss ich aber weiter. Ich will nicht, dass ihr Scherereien bekommt, und ich will auch keine. Falls jemand euch fragen sollte, worüber wir gesprochen haben…«
»Dann sagen wir, dass wir Ihnen helfen wollten, damit wir Münzen kriegen«, sagte Dixon. »Schon kapiert.«
»Gut.« Sie blickte kurz in die Kamera und ging los, drehte sich jedoch gleich wieder um. »Ihr werdet bald hier raus und nach Hause kommen. Bis dahin müsst ihr clever sein. Macht keinen Ärger, ja?«
Sie griff nach einem Staubtuch, wischte kurz das Ausgabefach des Getränkeautomaten ab, in dem es Alkoholika gab, dann verschwand sie mit ihrem Wagen aus dem Bild. Ellis und Dixon blieben noch einen Moment stehen, bis sie ebenfalls abzogen. Mrs. Sigsby stellte das Video ab.