»Ein Hungerstreik«, sagte Stackhouse mit leichtem Lächeln. »Das ist was Neues.«
»Stimmt«, sagte Mrs. Sigsby.
»Schon die Vorstellung erfüllt mich mit Schrecken.« Sein Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Siggers missbilligte das wahrscheinlich, aber er konnte nicht anders.
Zu seiner Überraschung lachte sie. Wann hatte er das bei ihr schon mal erlebt? Die korrekte Antwort lautete wohclass="underline" Noch nie. »Das hat tatsächlich einen lustigen Aspekt. Kinder sind für einen Hungerstreik besonders schlecht geeignet, schließlich sind sie noch im Wachstum. Wahre Essmaschinen. Aber Sie haben recht, es ist mal was anderes. Was meinen Sie, welche von den Neuankömmlingen das wohl in die Welt gesetzt haben?«
»Ach, kommen Sie! Keiner von denen. Wir haben nur ein Kind, das so clever ist, dass es überhaupt weiß, was ein Hungerstreik ist, und das ist schon fast einen Monat hier.«
»Stimmt«, sagte sie. »Und ich bin froh, wenn er nach hinten kommt. Wilholm war eine Plage, aber der hat seine Wut wenigstens offen gezeigt. Ellis hingegen… der ist verschlagen. Ich mag verschlagene Kinder nicht.«
»Wann kommt er denn weg?«
»Am Sonntag oder Montag, wenn Hallas und James im Hinterbau einverstanden sind. Was sie sein werden. Hendricks ist weitgehend mit ihm fertig.«
»Gut. Wollen Sie sich mit dieser Hungerstreikidee beschäftigen oder die Sache auf sich beruhen lassen? Ich schlage Letzteres vor. Das Ganze wird eines natürlichen Todes sterben, falls es überhaupt so weit kommt.«
»Ich glaube, ich werde es zur Sprache bringen. Wie Sie selbst sagen, haben wir momentan eine Menge Insassen, und es könnte gut sein, wenigstens einmal zu allen gemeinsam zu sprechen.«
»Wenn Sie das tun, wird Ellis wahrscheinlich herausbekommen, dass Alvorson ein Spitzel ist.« Bei dem IQ, den der Knabe hatte, war das eigentlich nicht nur wahrscheinlich, sondern sicher.
»Das macht nichts. In ein paar Tagen ist er sowieso hier weg, und sein kleiner Freund, der Nasenkneifer, wird ihm bald folgen. Aber was die Überwachungskameras angeht…«
»Bevor ich heute Abend abreise, schreibe ich eine Notiz an Andy Fellowes, und sobald ich wieder da bin, behandeln wir die Angelegenheit vorrangig.« Er beugte sich vor, verschränkte die Hände und richtete seine braunen Augen auf ihre stahlgrauen. »Wie wär’s, wenn Sie das alles bis dahin ein bisschen lockerer sehen? Sonst kriegen Sie noch Magengeschwüre. Erinnern Sie sich doch mindestens einmal am Tag daran, dass wir es mit Kindern zu tun haben, nicht mit hartgesottenen Verbrechern.«
Mrs. Sigsby erwiderte nichts, weil sie wusste, dass er recht hatte. Selbst Luke Ellis war nur ein Kind, so clever er auch sein mochte. Und wenn er eine Weile im Hinterbau verbracht hatte, würde er immer noch ein Kind sein, wenngleich überhaupt nicht mehr clever.
16
Als Mrs. Sigsby am Abend den Aufenthaltsraum betrat, schlank und aufrecht in ihrem scharlachroten Kostüm mit grauer Bluse und einer einreihigen Perlenkette, hatte sie es nicht nötig, mit einem Löffel gegen ein Glas zu klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen. Alles Geschnatter verstummte augenblicklich. In dem zum Westflügel führenden Gang versammelten sich mehrere MTAs und Pfleger. Selbst das Küchenpersonal kam heraus und postierte sich hinter der Salattheke.
»Wie die meisten von euch wissen, ist hier vorgestern beim Essen etwas Bedauerliches vorgefallen«, sagte Mrs. Sigsby mit einer angenehmen, tragenden Stimme. »Es hat Gerüchte und Geschwätz gegeben, dass dabei zwei Kinder zu Tode gekommen seien. Das ist absolut unwahr. Hier im Institut kommen keine Kinder um.«
Sie ließ den Blick in die Runde schweifen. Die Kinder starrten sie mit großen Augen an. Ans Essen dachten sie nicht mehr.
»Falls einige von euch sich auf ihren Obstsalat konzentriert und mir nicht zugehört haben sollten, will ich meine Feststellung wiederholen: Hier kommen keine Kinder um.« Sie machte eine Pause, um das wirken zu lassen. »Ihr habt nicht darum gebeten, hier zu sein. Das ist uns allen klar, aber wir entschuldigen uns nicht dafür. Ihr seid hier, um nicht nur eurem Land, sondern der ganzen Welt zu dienen. Wenn euer Dienst beendet ist, werdet ihr keine Orden bekommen, und es werden zu euren Ehren keine Paraden stattfinden. Ihr werdet euch unseres aufrichtigen Dankes nicht einmal bewusst sein, denn bevor ihr abreist, werden eure Erinnerungen an das Institut annihiliert werden. Ausradiert, falls ihr den Ausdruck nicht kennt.« Ihr Blick richtete sich für einen Moment auf Ellis und teilte ihm mit: Aber du kennst ihn natürlich. »Aber bitte begreift, dass wir euch trotzdem dankbar sind. Bei eurem Aufenthalt hier werden Tests an euch durchgeführt, die teilweise anstrengend sind, aber ihr werdet überleben und eure Eltern wiedersehen. Wir haben noch nie ein Kind verloren.«
Wieder machte sie eine Pause und wartete darauf, ob jemand etwas erwiderte oder einen Einwand äußerte. Wilholm hätte das wohl getan, aber der war fort. Ellis tat es nicht, weil direkte Reaktionen nicht seine Sache waren. Als Schachspieler zog er trickreiche Eröffnungen einem direkten Angriff vor. Nützen würde ihm das wenig.
»Nach dem Gesichtsfeld- und Sehschärfetest, den jene von euch, die ihn schon kennen, als ›die Punkte‹, ›die Blitze‹ oder ›die Lichter‹ bezeichnen, hatte Harold Cross einen kurzen Krampfanfall. Dabei hat er unbeabsichtigt nach Greta Wilcox geschlagen, die ihn – bewundernswerterweise, wie wir sicher alle finden–, beruhigen wollte. Sie hat sich dabei stark den Hals verrenkt, aber sie befindet sich auf dem Wege der Genesung. Ihre Schwester ist bei ihr. Die Wilcox-Zwillinge und Harold werden nächste Woche nach Hause geschickt, und unsere guten Wünsche werden sie begleiten.«
Wieder suchte ihr Blick Ellis, der an einem Tisch an der rückwärtigen Wand saß. Sein kleiner Freund war bei ihm. Dem hing die Kinnlade herab, aber wenigstens ließ er momentan seine Nase in Frieden.
»Falls irgendjemand etwas anderes behaupten sollte als das, was ich euch gerade erzählt habe, könnt ihr euch sicher sein, dass derjenige lügt. Dann solltet ihr seine Lügen unverzüglich einem von den Pflegern oder MTAs melden. Habt ihr mich verstanden?«
Stille, die nicht einmal von einem nervösen Husten durchbrochen wurde.
»Wenn ihr mich verstanden habt, sagt ihr: Ja, Mrs. Sigsby.«
»Ja, Mrs. Sigsby«, erwiderten die Kinder.
Sie setzte ein schmales Lächeln auf. »Das könnt ihr doch bestimmt besser.«
»Ja, Mrs. Sigsby!«
»Und jetzt mit echter Überzeugung.«
»JA, MRS. SIGSBY!« Diesmal stimmten selbst das Küchenpersonal, die MTAs und die Pfleger mit ein.
»Gut.« Mrs. Sigsby lächelte. »Um Lunge und Kopf klar zu bekommen, ist doch nichts besser geeignet als ein herzhaftes Ja, nicht wahr? Jetzt könnt ihr weiteressen.« Sie wandte sich an das weiß gewandete Küchenpersonal. »Und vor der Schlafenszeit gibt’s einen speziellen Leckerbissen, vorausgesetzt, unser Küchenchef kann Kuchen und Eiscreme zur Verfügung stellen. Wie steht es damit, Mr. Doug?«
Der Küchenchef formte Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis. Jemand begann zu klatschen. Andere fielen ein. Während Mrs. Sigsby den Raum verließ, nickte sie dankend nach rechts und links. Sie marschierte mit erhobenem Kopf dahin; ihre Hände schwangen in winzigen, präzisen Bogen vor und zurück. Um ihre Mundwinkel spielte ein leichtes Lächeln, das Luke an das der Mona Lisa erinnerte. Die Schar in Blau und Rosa trat auseinander, um ihr Platz zu machen.
Weiter applaudierend, beugte Avery sich zu Luke herüber und flüsterte: »Was sie gesagt hat, ist alles gelogen.«
Luke nickte beinahe unmerklich.
»Diese verdammte Bitch«, flüsterte Avery.
Mit demselben winzigen Nicken sandte Luke ihm eine kurze mentale Botschaft: Klatsch weiter.