17
In der Nacht lagen Luke und Avery nebeneinander in Lukes Bett, während ein weiterer Tag im Institut zu Ende ging.
Avery gab flüsternd alles wieder, was Maureen ihm jedes Mal mitgeteilt hatte, wenn er sich als Signal zum Senden an die Nase gegriffen hatte. Luke hatte befürchtet, dass Maureen die Botschaft, die er ihr in ihren Wagen geworfen hatte, nicht verstehen würde (ein kleines unbewusstes Vorurteil, vielleicht wegen der braunen Haushälterinnenuniform, die sie trug, daran musste er noch arbeiten), aber sie hatte alles kapiert und Avery mit einer Liste aller nötigen Schritte versorgt. Was die Signale anging, hätte der Avester nach Lukes Meinung etwas raffinierter vorgehen können, aber offenbar war alles glattgegangen. Jedenfalls musste er das hoffen. Falls das zutraf, blieb als einzige echte Frage nur noch, ob der erste Schritt tatsächlich klappen konnte. Die Frage war brutal simpel.
Die beiden Jungen lagen auf dem Rücken und blickten in die Dunkelheit. Luke ging die nötigen Schritte gerade zum zehnten – wenn nicht gar zum fünfzehnten – Mal durch, als Avery mit drei Wörtern, die wie ein rotes Neonschild leuchteten, in seinen Kopf eindrang. Als sie verblassten, hinterließen sie ein Nachbild.
Ja, Mrs. Sigsby.
Luke stupste ihn.
Avery kicherte.
Einige Sekunden später kamen die Worte wieder, diesmal noch greller.
Ja, Mrs. Sigsby!
Luke stupste Avery wieder, aber er lächelte dabei, was Avery trotz der Dunkelheit wahrscheinlich wusste. Das Lächeln spielte nicht nur um seinen Mund, sondern auch in seinem Kopf, und Luke fand, dass er ein Recht darauf hatte. Vielleicht würde ihm die Flucht aus dem Institut nicht gelingen – er musste zugeben, dass die Chancen gering waren–, aber heute war ein guter Tag gewesen. Hoffnung war so ein schönes Wort, das ihm so ein schönes Gefühl verschaffte.
JA, MRS. SIGSBY, DU VERFLUCHTE BITCH!
»Hör auf, sonst kitzle ich dich«, murmelte Luke.
»Es hat geklappt, oder etwa nicht?«, flüsterte Avery. »Es hat echt geklappt. Meinst du, dass du wirklich…«
»Keine Ahnung, ich weiß bloß, dass ich’s versuchen werde. Halt jetzt die Klappe und schlaf ein.«
»Ich tät mir wünschen, dass du mich mitnehmen kannst. Ganz doll sogar.«
»Ich auch«, sagte Luke und meinte es. Es würde schwer sein, Avery hier alleinzulassen. Der kam zwar besser mit den anderen zurecht als die Zwillinge und Stevie Whipple, aber als besonders umgänglich hätte ihn sicher niemand bezeichnet.
»Wenn du wiederkommst, musst du mindestens tausend Cops mitbringen«, flüsterte Avery. »Und tu das bald, bevor sie mich in den Hinterbau bringen. Tu es, solange wir Sha noch retten können.«
»Ich tu, was ich kann«, versprach Luke. »Aber hör jetzt auf, in meinem Kopf herumzubrüllen. Das ist allmählich nicht mehr lustig.«
»Wenn du mehr TP hättest, würde es dir nicht wehtun, mir was zu schicken, und wir könnten besser miteinander reden.«
»Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär. Zum letzten Maclass="underline" Schlaf endlich!«
Das tat Avery, und Luke verlor sich in seinen eigenen Gedanken. Der erste Schritt, den Maureen ihm übermittelt hatte, war so durchsichtig wie das Eis aus dem Automaten, an dem sie sich manchmal unterhalten hatten, aber er musste zugeben, dass er zu allem passte, was er beobachtet hatte: verstaubte Kameragehäuse, abgescheuerte Fußleisten, die nie frisch lackiert worden waren, die sorglos hinterlassene Aufzugkarte. Wieder hatte er den Eindruck, dass dieser Ort nur noch träge dahinglitt wie ein Raumschiff, dessen Motoren abgeschaltet worden waren.
18
Am nächsten Tag eskortierte Winona ihn auf Ebene C, wo er kurz durchgecheckt wurde: Blutdruck, Herzfrequenz, Temperatur, Sauerstoffsättigung. Als Luke fragte, was als Nächstes dran sei, warf Dave einen Blick auf sein Klemmbrett, schenkte ihm ein sonniges Grinsen – als ob er ihm nie eine brutale Ohrfeige verpasst hätte – und sagte, sonst stehe nichts auf dem Terminplan.
»Du hast den Tag frei, Luke. Genieß ihn!« Er hob die flache Hand.
Luke erwiderte sein Grinsen und klatschte ab, aber er dachte dabei an das, was auf Maureens Zettel gestanden hatte: Wenn sie keine Tests mehr mit dir machen, hast du vielleicht bloß noch 3 Tage.
»Was ist mit morgen?«, fragte er, als Dave ihn zum Aufzug zurückbrachte.
»Um morgen kümmern wir uns morgen«, sagte Dave. »So läuft es eben.«
Für manche Leute mochte das gelten, doch für Luke galt es nicht mehr. Er hätte gern mehr Zeit gehabt, Maureens Plan überdenken zu können – wobei er ihn wohl auf die lange Bank geschoben hätte–, aber er fürchtete, dass seine Zeit so gut wie abgelaufen war.
Inzwischen wurde auf dem Institutsspielplatz täglich Völkerball gespielt. Das war beinahe zu einem Ritual geworden, und praktisch alle nahmen zumindest eine Weile daran teil. Luke stellte sich in den Kreis und rannte mit den anderen etwa zehn Minuten lang umher, bis er sich treffen ließ. Anstatt sich anschließend zu den Werfern zu gesellen, schlenderte er über den Baseballplatz, an Frieda Brown vorüber, die allein und trostlos dastand und sich an Freiwürfen versuchte. Offenbar hatte sie immer noch keine richtige Ahnung, wo sie sich befand. Das konnte er gut verstehen. Er setzte sich auf den Kies und lehnte sich mit dem Rücken an den Maschendrahtzaun. Immerhin gab es nicht mehr so viele Stechmücken. Er legte die Handflächen auf den Boden und bewegte sie beiläufig hin und her, den Blick auf das Völkerballspiel gerichtet.
»Willst du mitmachen?«, fragte Frieda.
»Vielleicht später«, sagte Luke. Unauffällig griff er mit einer Hand nach hinten, tastete nach der Unterseite des Zauns und stellte fest, dass Maureen recht hatte – da war eine Lücke, weil der Boden leicht abfiel. Entstanden war sie vielleicht bei der Schneeschmelze im Frühjahr. Es waren nicht mehr als drei bis höchstens fünf Zentimeter, aber die Lücke war vorhanden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie aufzufüllen. Luke legte die umgedrehte Hand an die freiliegende Unterkante des Zauns und spürte, wie sich die Drahtenden in seine Handfläche pressten. Einen Moment lang wackelte er mit den Fingerspitzen in der freien Luft außerhalb vom Institut, dann stand er auf, klopfte sich den Hintern ab und fragte Frieda, ob sie Horse spielen wolle. Sie strahlte ihn mit einem Ausdruck an, der besagte: Ja! Natürlich! Sei mein Freund!
Das brach ihm irgendwie das Herz.
19
Auch am folgenden Tag wurden an Luke keinerlei Tests durchgeführt; diesmal machte man sich noch nicht einmal die Mühe, seine Vitalfunktionen zu kontrollieren. Er half Connie, einem von den Hausmeistern, zwei Matratzen vom Aufzug zu zwei Zimmern im Ostflügel zu schleppen, bekam jedoch nur eine lausige Münze für seine Mühe (was das Verteilen von Münzen anging, waren alle Hausmeister geizig). Auf dem Rückweg zu seinem Zimmer sah er Maureen am Eiswürfelspender stehen. Sie trank aus der Wasserflasche, die sie immer in dem Spender kühl stellte. Er fragte, ob sie Hilfe brauche.
»Nein, ist nicht nötig.« Dann, mit gesenkter Stimme: »Hendricks und Zeke haben sich draußen am Fahnenmast unterhalten. Ich habe sie beobachtet. Hattest du irgendwelche Tests?«
»Nein. Schon seit zwei Tagen nicht mehr.«
»Das hab ich mir gedacht. Heute ist Freitag. Eventuell hast du bis Samstag oder Sonntag Zeit, aber das Risiko würde ich an deiner Stelle nicht eingehen.« Die Mischung aus Besorgnis und Mitgefühl, die er auf ihrem abgezehrten Gesicht sah, erschreckte ihn.
Heute Nacht.
Das sprach er nicht laut aus, er formte die Worte nur mit dem Mund, während er sich mit der rechten Hand ans Gesicht griff und unter dem Auge kratzte. Sie nickte.