»Maureen… wissen die eigentlich, dass Sie…« Er konnte den Satz nicht vollenden, musste es aber auch gar nicht.
»Sie meinen, es ist Ischias.« Ihr Flüstern war kaum zu verstehen. »Hendricks ahnt vielleicht was, aber er kümmert sich nicht drum. Solange ich weiterarbeite, ist es ihnen völlig egal. Geh jetzt weiter, Luke. Ich räume dein Zimmer auf, während du beim Mittagessen bist. Wirf einen Blick unter die Matratze, wenn du zu Bett gehst. Viel Glück.« Sie zögerte. »Ich wünschte, ich könnte dich umarmen, Sohnemann.«
Luke spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Er hastete davon, bevor sie es bemerken konnte.
Beim Mittagessen griff er kräftig zu, obwohl er nicht besonders hungrig war. Dasselbe würde er beim Abendessen tun. Wenn es klappte, würde er so viele Kalorien brauchen, wie er speichern konnte.
Beim Abendessen setzte sich Frieda, die offenbar anhänglich geworden war, zu Luke und Avery an den Tisch. Anschließend gingen sie auf den Spielplatz, wo Luke es allerdings dankend ablehnte, mit Frieda noch einmal Basketball zu spielen. Er werde stattdessen aufpassen, dass Avery auf dem Trampolin nichts passiere.
Während der Avester sich lustlos abwechselnd auf den Hintern und den Bauch fallen ließ, leuchtete in Lukes Kopf wieder eine neonrote Botschaft auf.
Heute Nacht?
Luke schüttelte den Kopf. »Aber du musst trotzdem in deinem eigenen Zimmer schlafen. Ich brauche ausnahmsweise mal volle acht Stunden.«
Avery rutschte vom Trampolin und sah Luke ernst an. »Erzähl mir bloß nichts, was nicht stimmt, weil du meinst, jemand könnte finden, ich seh traurig aus, und sich fragen, warum. Ich muss nicht traurig aussehen.« Womit er seinen Mund zu einem hoffnungslos unechten Grinsen verzog.
Okay. Hauptsache, du vermasselst mir nicht meine Chance, Avester.
Komm wieder, und hol mich hier raus, wenn du kannst. Bitte.
Mach ich.
Nun kamen die Blitze wieder und mit ihnen eine lebhafte Erinnerung an den Wassertank. Das lag wohl an der Anstrengung, bewusst Gedanken an jemand zu senden.
Avery betrachtete ihn noch einen Moment, dann rannte er zum Basketballplatz. »Spielen wir Horse, Frieda?«
Sie blickte auf ihn herab und grinste ihn an. »Gegen mich hast du doch keine Chance, Kleiner.«
»Gib mir ein H und ein O Vorsprung, dann schauen wir mal.«
Die beiden spielten, während es langsam dunkel wurde. Als Luke den Spielplatz überquerte, warf er einen Blick zurück. Avery, den Harry Cross einmal als Lukes »Minikumpel« bezeichnet hatte, versuchte einen Hakenwurf, der total danebenging. Wahrscheinlich würde er vor dem Zubettgehen in Lukes Zimmer kommen, um wenigstens seine Zahnbürste zu holen, doch das tat er nicht.
20
Luke spielte auf seinem Laptop ein paarmal Slap Dash und 100 Balls, dann putzte er sich die Zähne, zog sich bis auf die Boxershorts aus und stieg ins Bett. Er schaltete die Lampe aus und griff unter seine Matratze. Womöglich hätte er sich die Finger an dem Messer aufgeschlitzt, das Maureen dort hinterlegt hatte (im Gegensatz zu denen aus Plastik, die man beim Essen bekam, fühlte sich dieses wie ein Gemüsemesser mit einer echten Klinge an), wenn sie es nicht in einen Waschlappen gewickelt hätte. Außerdem fand er noch etwas anderes, was er identifizieren konnte, indem er es betastete. Bevor er hierhergekommen war, hatte er so etwas oft genug verwendet. Einen USB-Stick. Er lehnte sich im Dunkeln aus dem Bett und schob die beiden Gegenstände in seine Hosentasche.
Nun kam die Zeit des Wartens. Eine Weile rannten Kinder den Flur rauf und runter. Vielleicht spielten sie Fangen, vielleicht tobten sie einfach nur so herum. Da jetzt mehr Zimmer belegt waren, lief es praktisch jeden Abend so. Man hörte Geschrei und Gelächter, gefolgt von übertriebenen Beschwichtigungsgeräuschen, denen weiteres Gelächter folgte. Die da draußen ließen Dampf ab und damit auch ihre Furcht. Mit am lautesten brüllte heute Stevie Whipple, was Luke darauf zurückführte, dass er ein Fläschchen Wein oder einen Alcopop intus hatte. Es gab keine strengen Erwachsenen, die Ruhe verlangt hätten; wer für die Überwachung zuständig war, hatte offenbar keinerlei Interesse, irgendwelche Regeln oder Sperrstunden durchzusetzen.
Endlich kam der Flur zur Ruhe. Nun hörte Luke nur das Geräusch seines zuverlässig schlagenden Herzens und die Bewegung seiner Gedanken, während er zum letzten Mal Maureens Liste durchging.
Sobald ich draußen bin, muss ich dahin, wo das Trampolin steht, erinnerte er sich. Dann drehe ich mich ein Stück weit nach rechts. Und falls nötig, muss ich das Messer zu Hilfe nehmen.
Falls er es tatsächlich hinausschaffte.
Erleichtert stellte er fest, dass er zu achtzig Prozent entschlossen war und nur zu zwanzig Prozent Angst hatte. Selbst dieses Maß an Angst war eigentlich nicht ganz echt, aber es war wohl naturbedingt. Was seine Entschlossenheit antrieb – was er ohne jeden Zweifel wusste–, war ganz simpeclass="underline" Er hatte nur diese eine Chance, und er beabsichtigte, das Beste daraus zu machen.
Nachdem es draußen auf dem Flur eine geschätzte halbe Stunde lang ruhig war, stieg Luke aus dem Bett und griff sich den Plastikkübel für Eis, der auf dem Fernseher stand. Er hatte sich eine Geschichte ausgedacht, falls jemand zu dieser Stunde tatsächlich die Monitore beobachtete, anstatt irgendwo da unten in einem Überwachungsraum zu sitzen und Solitaire zu spielen.
Diese Geschichte handelte von einem Jungen, der früh zu Bett ging und dann aus irgendeinem Grund aufwachte, vielleicht weil er pinkeln musste, vielleicht weil er schlecht geträumt hatte. Jedenfalls befand dieser Junge sich noch im Halbschlaf, weshalb er in seiner Unterwäsche durch den Flur tappte. Kameras in staubigen Gehäusen beobachteten ihn, während er zum Eiswürfelspender ging, um seinen Kübel zu füllen. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, hatte er nicht nur den Kübel, sondern auch die Schaufel aus dem Spender dabei, aber bestimmt nur, weil er so verschlafen war, dass er nicht merkte, das Ding noch in der Hand zu haben. Morgens würde er es auf seinem Schreibtisch oder im Waschbecken liegen sehen und sich fragen, wie es da wohl hingelangt war.
In sein Zimmer zurückgekehrt, schaufelte Luke etwas Eis in ein Glas, ließ Wasser hineinlaufen und trank sofort die Hälfte davon. Das war gut. Sein Mund und sein Hals waren total ausgetrocknet. Er ließ die Schaufel auf dem Spülkasten liegen und legte sich wieder ins Bett, wo er sich unruhig hin und her warf. Dabei murmelte er vor sich hin. Vielleicht vermisste der Junge in der Geschichte seinen Minikumpel und konnte deshalb nicht mehr einschlafen. Und vielleicht wurde er auch von niemand beobachtet oder belauscht, aber das konnte er nicht wissen, weshalb er dieses Schauspiel bieten musste.
Schließlich schaltete er die Nachttischlampe ein und zog sich an. Er ging ins Bad, wo sich keine Überwachungskamera befand (jedenfalls wahrscheinlich nicht), schob sich die Schaufel vorn in die Hose und drapierte sein T-Shirt darüber. Falls es hier doch eine Kamera gab und falls jemand gerade die Livebilder betrachtete, war er vermutlich jetzt schon geliefert. Dagegen konnte er nichts tun, außer zum nächsten Teil seiner Geschichte überzugehen.
Er verließ sein Zimmer und ging durch den Flur zum Aufenthaltsraum. Dort lagen Stevie Whipple und irgendein anderer Junge, einer von den Neuen, tief schlafend auf dem Boden. Um sie herum waren etwa ein halbes Dutzend leere Alcopops verstreut. Die kleinen Fläschchen entsprachen einer anständigen Menge Münzen. Stevie und sein neuer Freund würden daher mit einem Kater und leeren Taschen aufwachen.
Luke trat über Stevie und ging in den Essbereich. Da nur das fluoreszierende Licht der Salattheke brannte, war es hier düster und ein bisschen unheimlich. Luke nahm sich aus der nie leeren Obstschale einen Apfel und biss hinein, während er durch den Raum ging und hoffte, dass niemand ihn beobachtete. Falls doch, würde dieser Jemand hoffentlich auf die Pantomime hereinfallen, die Luke zum Besten gab. Der Junge aus der Geschichte war aufgewacht. Er hatte sich am Spender Eis besorgt und ein schön kaltes Glas Wasser getrunken, aber dadurch war er noch wacher geworden, weshalb er in den Aufenthaltsraum gegangen war, um sich etwas zu essen zu holen. Jetzt dachte er: Ach, ich könnte ja mal eine Weile auf den Spielplatz gehen, um frische Luft zu schnappen. Damit wäre er nicht der Erste; Kalisha hatte erzählt, dass sie mit Iris mehrmals hinausgegangen war, um sich die Sterne anzuschauen – die waren hier draußen, wo es keinerlei Lichtverschmutzung gab, unglaublich hell. Manche Kids, hatte sie gesagt, verzogen sich nachts auch auf den Spielplatz, um zu knutschen. Daher hoffte Luke, dass sich jetzt gerade niemand zu einem dieser beiden Zwecke da draußen befand.