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Tim betrachtete die Straße, die Bahngleise, die schrumpfenden Schatten. Warf einen Blick auf den städtischen Wasserturm, der wie ein Kampfroboter aus einem Science-Fiction-Film in den Himmel ragte. Es würde wieder ein heißer Tag werden, vermutete er. Außerdem vermutete er noch etwas anderes. Es kam auf genau diesen Augenblick an, ob er den Job bekam oder nicht. Alles hing davon ab, was er als Nächstes sagte. Die Frage war: Wollte er diesen Job wirklich oder war es nur eine vorübergehende Laune, entstanden durch die Erinnerung an seinen Großvater?

»Mr. Jamieson? Sind Sie noch dran?«

»Ich habe diese Auszeichnung verdient. Sie hätte auch an einen anderen Kollegen gehen können, ich habe mit ein paar guten Leuten zusammengearbeitet, aber es stimmt, ich habe sie verdient. Als ich Sarasota verließ, habe ich nicht viel mitgenommen – den Rest wollte ich mir schicken lassen, sobald ich in New York was an Land gezogen hab–, aber die Auszeichnung habe ich eingepackt. Sie ist in meiner Reisetasche. Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen gerne zeigen.«

»Das will ich«, sagte Sheriff John. »Aber nicht, weil ich Ihnen nicht glaube. Ich möchte das Ding einfach sehen. Sie sind zwar geradezu grotesk überqualifiziert für einen Job als Nachtklopfer, aber wenn Sie ihn wirklich wollen, können Sie heute Abend um elf anfangen. Dienstzeit ist von elf bis sechs.«

»Ich will ihn«, sagte Tim.

»In Ordnung.«

»Einfach so?«

»Ich bin jemand, der seinem Instinkt vertraut, und ich stelle ja gerade einen Nachtklopfer ein, keinen Wachmann für einen Geldtransporter, daher ja, einfach so. Sie brauchen auch nicht jetzt um zehn hier aufkreuzen. Legen Sie sich noch ein bisschen aufs Ohr und kommen Sie gegen Mittag vorbei. Officer Gullickson wird Ihnen alles erklären. Wird nicht lange dauern. Für den Job muss man nicht studiert haben, wie man so sagt. Allerdings werden Sie Samstag nachts, wenn die Kneipen zumachen, auf der Straße allerhand interessante Studien treiben können.«

»Alles klar. Vielen Dank.«

»Sehen wir mal, ob Sie mir nach Ihrem ersten Wochenende immer noch dankbar sind. Ach, noch was. Sie sind kein Deputy, und Sie haben nicht die Erlaubnis, eine Schusswaffe zu tragen. Wenn Sie auf eine Situation stoßen, mit der Sie nicht fertigwerden oder die Sie für gefährlich halten, funken Sie die Zentrale an. Ist das klar?«

»Ja.«

»Hoffentlich, Mr. Jamieson. Wenn ich feststellen sollte, dass Sie doch eine Waffe einpacken, können Sie Ihre Koffer packen.«

»Kapiert.«

»Dann ruhen Sie sich jetzt noch ein bisschen aus. Schließlich sollen Sie zu einem Geschöpf der Nacht werden, wie man so sagt.«

Wie Graf Dracula, dachte Tim. Er legte auf, hängte das Schild mit der Aufschrift BITTE NICHT STÖREN an die Tür, zog den dünnen, verschlissenen Vorhang vors Fenster, stellte auf seinem Handy den Wecker ein und legte sich wieder schlafen.

9

Deputy Wendy Gullickson, die in Teilzeit für den Sheriff arbeitete, war zehn Jahre jünger als Ronnie Gibson und absolut umwerfend, obwohl sie ihre blonden Haare zu einem so engen Knoten zusammengebunden hatte, dass der zu schreien schien. Tim versuchte erst gar nicht, mit ihr zu flirten; es war deutlich, dass sie in der Hinsicht sämtliche Schutzschilde hochgefahren hatte. Er überlegte sogar kurz, ob sie lieber jemand anderes als Nachtklopfer gesehen hätte, zum Beispiel ihren Bruder oder ihren Boyfriend.

Sie überreichte ihm einen Plan mit dem ausgesprochen überschaubaren Geschäfts- und Kneipenviertel von DuPray, ein Handfunkgerät, das man am Gürtel befestigen konnte, und eine Kontrolluhr, die ebenfalls an den Gürtel kam. Batterien hatte die Uhr keine, wie Deputy Gullickson erklärte; man zog sie am Anfang jeder Schicht auf.

»Tja, im Jahre 1946 war das Ding wahrscheinlich hochmodern«, sagte Tim. »Irgendwie ist es richtig cool. Retro.«

Sie lächelte nicht. »Sie drücken die Uhr bei Fromie’s Maschinenhandlung und dann wieder beim Güterbahnhof am westlichen Ende von der Hauptstraße. Das ist eine Strecke von eins Komma sechs Meilen. Ed Whitlock hat pro Schicht vier Rundgänge gemacht.«

Was beinahe dreizehn Meilen ergab. »Bei Weight Watchers anmelden muss ich mich da nicht, das ist klar.«

Noch immer kein Lächeln. »Ich werde zusammen mit Ronnie Gibson einen Dienstplan für Sie erstellen. Pro Woche haben Sie zwei Nächte frei, wahrscheinlich am Montag und am Dienstag. Nach dem Wochenende ist es in der Stadt ziemlich ruhig, aber manchmal werden wir Sie da trotzdem einsetzen müssen. Falls Sie uns erhalten bleiben.«

Tim faltete die Hände im Schoß und betrachtete sein Gegenüber mit einem schiefen Grinsen. »Haben Sie vielleicht ein Problem mit mir, Deputy Gullickson? Falls ja, sagen Sie es mir bitte jetzt oder schweigen Sie für immer.«

Sie hatte einen nordisch hellen Teint, weshalb nicht zu übersehen war, dass ihr das Blut in die Wangen stieg. Damit sah sie noch besser aus als bisher, aber wahrscheinlich war es ihr trotzdem peinlich.

»Das weiß ich jetzt noch nicht«, sagte sie. »Wird sich erst in Zukunft zeigen. Wir sind ein gutes Team hier. Klein, aber gut. Wir ziehen alle am selben Strang. Während Sie erst mal bloß jemand sind, der hereingeschneit ist und einen Job an Land gezogen hat. Die Leute in der Stadt veräppeln den Nachtklopfer gern, was Ed mit Humor genommen hat, aber es ist eine wichtige Aufgabe, vor allem in einem Ort, in dem es nur eine so kleine Polizeibehörde gibt wie unsere.«

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Tim. »Das hat mein Opa häufig von sich gegeben. Der war Nachtklopfer, Officer Gullickson. Deshalb habe ich mich für den Job beworben.«

Daraufhin schien sie ein bisschen aufzutauen. »Was die Kontrolluhr angeht, die ist vorsintflutlich, das stimmt. Ich kann nur sagen: Gewöhnen Sie sich daran. Als Nachtklopfer hat man einen analogen Job in einem digitalen Zeitalter. Zumindest in DuPray.«

10

Was sie damit meinte, fand Tim schon bald heraus. Er fühlte sich wie ein Streifenpolizist so um das Jahr 1954, nur ohne Pistole oder auch nur einen Schlagstock. Er war nicht befugt, jemand festzunehmen. Einige der größeren Geschäfte in der Stadt waren mit Alarmanlagen ausgestattet, aber die meisten kleineren Läden verfügten nicht über derartige technische Finessen. Bei Geschäften wie dem DuPray Mercantile und Oberg’s Drugstore vergewisserte Tim sich daher, ob die grünen Lämpchen der Anlage brannten und ob irgendwelche Anzeichen für einen Einbruch zu entdecken waren. Sonst rüttelte er an Türknauf oder Klinke, spähte durch die Glasscheiben und klopfte dreimal, wie man es seit jeher tat. Gelegentlich folgte darauf eine Reaktion – jemand winkte oder rief einige Worte–, aber meistens nicht, was in Ordnung war. Dann hinterließ er ein Kreidezeichen und ging weiter. Auf dem Rückweg wiederholte er die Prozedur, nur dass er diesmal das Kreidezeichen abwischte. Wobei ihm manchmal ein alter irischer Witz in den Sinn kam: Wenn du als Erster hinkommst, Paddy, machst du ein Zeichen an die Tür. Wenn ich der Erste bin, wisch ich es weg. Einen praktischen Grund für diese Zeichen gab es anscheinend nicht; es war einfach eine Tradition, die vielleicht über eine lange Reihe von Nachtklopfern bis in die Zeit nach dem Bürgerkrieg zurückreichte.

Dank George Burkett, einem der Teilzeit-Deputys, fand Tim eine anständige Unterkunft. George hatte ihm erzählt, seine Mutter besitze eine kleine möblierte Wohnung über ihrer Garage, die sie ihm günstig vermieten werde, wenn er Interesse habe. »Es sind bloß zwei Zimmer, aber die sind ganz hübsch. Mein Bruder hat ein paar Jahre da gewohnt, bevor er nach Florida gezogen ist. Hat in Orlando in diesem Themenpark von Universal einen Job gekriegt. Verdient ganz anständig da.«