Es war tatsächlich niemand da, und weil kein Mond schien, war es ziemlich dunkel. Die verschiedenen Spielgeräte waren nur als eckige Schatten erkennbar. Wenn kleine Kinder ganz allein waren, hatten sie im Dunkeln häufig Angst. Für größere Kinder galt das ebenfalls, wenngleich die meisten das nicht zugegeben hätten.
Luke schlenderte über den Spielplatz und wartete ab, ob einer von den ihm weniger vertrauten Pflegern der Nachtschicht auftauchte und fragte, was er hier draußen zu suchen habe, und das auch noch mit einer Eisschaufel unter dem T-Shirt. Er wolle doch nicht etwa fliehen, oder? Das wäre nämlich ganz schön bekloppt!
»Bekloppt«, murmelte Luke, während er sich mit dem Rücken am Maschendrahtzaun auf den Boden setzte. »Das bin ich tatsächlich, echt bekloppt.«
Wieder wartete er, ob jemand auftauchte. Das war nicht der Fall. Man hörte nur das Zirpen von Grillen und den Ruf einer Eule. Da drüben befand sich zwar eine Kamera, aber ob jemand die wirklich überwachte? Ja, es gab Überwachungsmaßnahmen, aber die waren schlampig. Das war völlig klar. Wie schlampig sie waren, würde er jetzt herausfinden.
Er hob sein Shirt hoch und zog die Schaufel hervor. Nach seinem Plan würde er hinter seinem Rücken mit der rechten Hand schaufeln und eventuell zur linken überwechseln, wenn ihm der Arm erlahmte. In der Realität klappte das nicht besonders gut. Er stieß mit der Schaufel wiederholt an die Unterkante des Zauns, was ein Geräusch hervorrief, das in der Stille deutlich zu hören war. Außerdem sah er nicht, ob er irgendwelche Fortschritte machte.
So geht das nicht, dachte er.
Luke schob alle Sorgen wegen der Kamera beiseite, kniete sich hin und fing an, unter dem Zaun zu buddeln, dass der Kies nur so nach rechts und links spritzte. Die Zeit schien sich auszudehnen, und er hatte das Gefühl, dass Stunden vergingen. Ob da wohl jemand im Überwachungsraum saß, den er noch nie gesehen hatte (aber sich lebhaft vorstellen konnte) und der sich allmählich wunderte, weshalb der an Schlaflosigkeit leidende Junge nicht vom Spielplatz zurückgekehrt war? Ob er dann jemand herschicken würde, um die Lage zu checken? Und was war, wenn die Kamera mit einer Nachtsichtfunktion ausgestattet war, Lukey? Wie stand es damit?
Luke buddelte. Er spürte, wie sein Gesicht vom Schweiß ölig wurde und wie die für die Nachtschicht eingeteilten Mücken sich darauf niederließen. Er buddelte. Er konnte seine Achselhöhlen riechen. Sein Herzschlag steigerte sich zum Galopp. Er spürte, dass jemand hinter ihm stand, doch als er sich umblickte, sah er nur den Pfosten des Basketballkorbs, der vor den Sternen aufragte.
Schließlich hatte er unter dem Zaun einen Graben ausgehoben. Der war zwar nicht besonders tief, aber Luke war schon vor der Ankunft im Institut mager gewesen und hatte seither noch mehr abgenommen. Vielleicht…
Doch als er sich platt auf den Boden legte und untendurch robben wollte, hielt der Zaun ihn auf. Der Zwischenraum war noch längst nicht groß genug.
Geh wieder rein. Geh wieder rein und schnell ins Bett, bevor man dich entdeckt und dir etwas Grässliches antut, weil du versuchst, von hier zu fliehen.
Aber das war keine Option, bloß Feigheit. Man würde ihm nämlich in jedem Fall etwas Grässliches antun: die Filme, die Kopfschmerzen, die Stass-Lichter… und schließlich das Summen.
Keuchend buddelte er weiter, hin und her, links und rechts. Allmählich vergrößerte sich der Zwischenraum zwischen der Unterkante des Zauns und dem Boden. Wie dumm von denen, dass sie den Boden hier nicht asphaltiert hatten. Wie dumm von ihnen, dass sie den Zaun nicht wenigstens unter eine leichte elektrische Spannung gesetzt hatten. Aber das hatten sie nicht getan, und deshalb war er hier.
Er legte sich wieder auf den Boden, um untendurch zu robben. Auch diesmal hinderte ihn der Zaun daran, aber viel fehlte nicht mehr. Luke kniete sich hin und buddelte weiter, immer schneller, links und rechts, hin und her. Mit einem leisen Knall brach der Handgriff der Schaufel ab. Luke warf ihn beiseite. Während er weiterarbeitete, spürte er, wie sich der Rand der Schaufel in seine Handflächen bohrte. Als er innehielt, um einen Blick darauf zu werfen, sah er, dass sie bluteten.
Jetzt musste es aber klappen. Definitiv.
Dennoch passte er immer noch nicht… ganz… hindurch.
Also griff er wieder nach der Schaufel. Links und rechts, backbord und steuerbord. Von seinen Fingern tropfte Blut, die verschwitzten Haare klebten an der Stirn, in den Ohren summten die Mücken. Er warf die Schaufel weg, legte sich hin und versuchte noch einmal, sich unter dem Zaun durchzuschieben. Die hervorstehenden Drahtenden zerfetzten sein T-Shirt und bohrten sich in seine Haut. Er spürte, dass er an den Schulterblättern blutete, aber er robbte weiter.
Auf halbem Weg blieb er stecken. Als er keuchend auf den Kies starrte, sah er, wie der von dem Luftstrom aus seiner Nase erfasste Staub in der Luft winzige Wirbel bildete. Er musste zurück, musste noch tiefer graben… vielleicht nur ein bisschen. Als er sich nun zurück auf den Spielplatz schieben wollte, stellte er fest, dass das ebenfalls nicht ging. Er steckte in jeder Beziehung fest. Wenn morgen früh die Sonne aufging, würde er unter diesem beschissenen Zaun immer noch gefangen sein wie ein Kaninchen in der Falle.
Nun kamen auch die farbigen Punkte wieder. Rot und grün und violett stiegen sie aus dem aufgewühlten Boden auf, der nur wenige Zentimeter von seinen Augen entfernt war. Sie jagten auf ihn zu, zerbrachen und verschmolzen, drehten sich und blitzten. Er spürte, wie Klaustrophobie ihm Herz und Kopf zusammenpresste. Seine Hände pochten und kribbelten.
Luke streckte die Arme aus, krallte sich mit den Fingern in den Dreck und zog mit aller Kraft. Einen Moment besetzten die Blitze nicht nur sein Blickfeld, sondern sein gesamtes Gehirn; er war in ihrem Licht verloren. Dann schien die Unterkante des Zauns sich minimal anzuheben. Womöglich war das bloße Einbildung, aber wohl doch nicht, denn er hörte es knarren.
Vielleicht bin ich durch die Spritzen und den Wassertank TK-pos geworden. Zu so jemand wie George.
Darauf kam es jetzt allerdings nicht an. Das Einzige, worauf es ankam, war die Tatsache, dass er sich wieder vorwärtsbewegen konnte.
Die Punkte verblassten. Falls der Zaun sich tatsächlich gehoben hatte, so hatte er sich jetzt wieder gesenkt. Die Metallspitzen rissen Luke nicht mehr die Schulterblätter, sondern Hintern und Oberschenkel auf. Sobald er einen qualvollen Moment lang innehielt, griff der Zaun wieder gierig nach ihm und wollte nicht mehr loslassen, doch als er den Kopf zur Seite drehte und die Wange auf den kiesbestreuten Boden legte, sah er vor sich einen Strauch, der vielleicht in Reichweite war. Er streckte sich, kam nicht nah genug heran, streckte sich ein kleines Stück weiter und bekam den Strauch zu fassen. Er zog. Der Strauch begann sich aus dem Boden zu lösen, aber bevor das ganz geschehen war, rutschte Luke wieder vorwärts. Er ruckelte mit den Hüften und schob mit den Füßen nach. Eine Drahtspitze gab ihm einen Abschiedskuss, indem sie ihm einen heißen Strich über eine Wade zog, dann schlängelte er sich endgültig auf die andere Seite des Zauns.