Luke war draußen.
Schwankend erhob er sich auf alle viere und sah sich mit wildem Blick um, weil er erwartete, dass alle Lichter aufflammten, nicht nur im Aufenthaltsraum, sondern auch in den Fluren, und dass er in ihrem Schein rennende Gestalten sah – Pfleger, die ihre Schockstöcke aus dem Holster gezogen und auf maximale Stärke gestellt hatten.
Da war niemand.
Er richtete sich ganz auf und rannte blindlings los, weil er den entscheidenden nächsten Schritt – sich zu orientieren – in seiner Panik vergessen hatte. Womöglich wäre er in den Wald gerannt und hätte sich darin verirrt, bevor sich seine Vernunft wieder zu Wort meldete, doch da spürte er plötzlich einen brennenden Schmerz, weil er mit der linken Ferse auf einen scharfkantigen Stein getreten war. Ihm wurde klar, dass er bei seinem verzweifelten Ausbruch einen Schuh verloren hatte.
Luke lief zum Zaun zurück, bückte sich, hob den Schuh auf und zog ihn an. Sein Rücken und sein Hintern taten zwar weh, aber der letzte Schnitt in die Wade war tiefer gegangen und brannte wie ein heißer Draht. Während sein Herzschlag sich verlangsamte, konnte er allmählich wieder klar denken. Sobald du draußen bist, musst du da hin, wo das Trampolin steht. So hatte Avery ihm den zweiten von Maureens Schritten übermittelt. Stell dich mit dem Rücken dazu hin, und mach eine Vierteldrehung nach rechts. Das ist die Richtung, die du nehmen musst. Es ist nur etwa eine Meile, und du musst nicht total geradeaus gehen, weil dein Ziel ziemlich groß ist, aber versuch dein Bestes. Am Abend, als sie schon im Bett lagen, hatte Avery gesagt, vielleicht könne Luke sich von den Sternen leiten lassen. Er selbst kenne sich mit so etwas nicht aus.
Na gut. Zeit zu gehen. Aber vorher musste noch etwas anderes erledigt werden.
Er griff an sein rechtes Ohr und tastete nach der kleinen Scheibe, die dort eingebettet war. Dabei fiel ihm ein, dass eines von den Mädchen – vielleicht Iris, vielleicht auch Helen – gesagt hatte, die Implantation habe ihr nicht wehgetan, weil ihre Ohren bereits vorher durchstochen gewesen seien. Allerdings konnte man Ohrringe herausnehmen, das hatte Luke bei seiner Mutter gesehen. Das Ding da war jedoch fixiert.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ich nicht das Messer brauche.
Luke nahm sich zusammen, bohrte die Fingernägel unter den runden oberen Rand des Ortungschips und zog. Sein Ohrläppchen dehnte sich, und es tat weh, brutal weh sogar, aber der Chip rührte sich nicht vom Fleck. Luke ließ los, holte zweimal tief Luft (wobei die Erinnerung an den Wassertank wiederkam) und zog noch einmal. Fester. Es tat noch mehr weh, aber der Chip blieb an Ort und Stelle, und die Zeit verging. Im Westflügel, der aus der ungewohnten Perspektive fremd aussah, war es immer noch dunkel und ruhig, aber wie lange würde es dabei bleiben?
Er überlegte, ob er noch einmal versuchen sollte, den Chip herauszuziehen, aber das hätte nur bedeutet, das Unvermeidliche aufzuschieben. Maureen hatte Bescheid gewusst; deshalb hatte sie ihm ja das Schälmesser unter die Matratze gesteckt. Er zog es aus der Hosentasche (wobei er darauf achtete, dass der USB-Stick nicht ebenfalls herausrutschte) und hielt es sich im schwachen Sternenlicht vor die Augen. Nachdem er mit dem Daumenballen die Schneide ertastet hatte, griff er mit der linken Hand ans rechte Ohr und dehnte das Ohrläppchen so weit, wie es ging, was nicht besonders weit war.
Luke zögerte und nahm sich einen Moment Zeit, wirklich zu begreifen, dass er auf der freien Seite des Zauns stand. Wieder heulte die Eule, ein schläfriges Geräusch. Er sah in der Dunkelheit Glühwürmchen aufleuchten und registrierte selbst in dieser extremen Lage, was für ein schönes Gefühl das war.
Mach schnell, sagte er sich. Tu so, als würdest du ein Steak durchschneiden. Und schrei nicht, auch wenn es noch so wehtut. Du darfst auf keinen Fall schreien.
Er setzte die Messerschneide oben an sein Ohrläppchen und stand so einige Sekunden da, die sich wie einige Ewigkeiten anfühlten. Dann ließ er das Messer sinken.
Ich kann nicht.
Du musst.
Ich kann nicht.
O Gott, ich muss es tun.
Wieder legte er das Messer an das zarte, ungeschützte Fleisch und zog sofort durch, bevor er Zeit hatte, mehr zu tun als nur zu hoffen, dass die Schneide so scharf war, es mit einem einzigen Schnitt zu schaffen.
Die Schneide war tatsächlich scharf, doch im letzten Moment ließ seine Kraft ihn minimal im Stich, weshalb das Ohrläppchen an einem Hautfetzen herabhing, anstatt ganz abzugehen. Zuerst spürte er keine Schmerzen, nur das warme Blut, das ihm am Hals herablief. Dann waren sie plötzlich da. Es war, als hätte eine riesenhafte Wespe ihn gestochen und ihr Gift in ihn hineingespritzt. Er sog zischend Luft in die Lunge, ergriff das herabhängende Ohrläppchen und zog es ab wie die Haut von einer Hähnchenkeule. Dann beugte er sich darüber, obwohl er wusste, dass er das verdammte Ding in den Fingern hielt. Er musste es trotzdem sehen, musste sich vergewissern. Da war es.
Luke stellte sich mit dem Rücken zum Trampolin an den Zaun und machte eine Vierteldrehung nach rechts. Vor ihm erstreckte sich der dunkle Wald von Maine für weiß Gott wie viele Meilen. Als Luke den Kopf hob, sah er den Großen Wagen. Ein Eckstern stand in gerader Linie vor ihm. Dem musst du folgen, sagte er sich, mehr musst du gar nicht tun. Bis zum Morgen würde er ohnehin nicht unterwegs sein; Maureen hatte zu Avery gesagt, es sei nur etwa eine Meile, dann komme der nächste Schritt. Achte nicht auf die Schmerzen in deinen Schulterblättern, die schlimmeren Schmerzen in deiner Wade und die allerschlimmsten in deinem Van-Gogh-Ohr. Achte nicht darauf, dass deine Arme und Beine zittern. Mach dich auf den Weg. Aber zuerst…
Er hob die zur Faust geballte rechte Hand über die Schulter und schleuderte das Ohrläppchen, in dem der Chip eingebettet war, über den Zaun. Mit einem leisen Klicken (das er sich vielleicht nur einbildete) landete es auf dem Asphalt, von dem der erbärmliche Basketballplatz umgeben war. Sollen sie es da finden.
Luke ging los, den Blick nach oben auf jenen einzelnen Stern gerichtet.
21
Davon leiten lassen konnte Luke sich kaum mehr als dreißig Sekunden. Sobald er zwischen die Bäume trat, war der Stern verschwunden. Luke blieb abrupt stehen. Hinter ihm war das Institut durch die ersten, sich verflechtenden Äste des Waldes hindurch noch teilweise sichtbar.
Bloß eine Meile, sagte er sich, und ich müsste das Ziel selbst dann finden, wenn ich ein bisschen vom Weg abweiche, weil Maureen zu Avery gesagt hat, dass es groß ist. Ziemlich groß jedenfalls. Geh also langsam. Du bist Rechtshänder, was bedeutet, dass deine rechte Seite dominiert. Versuch, das zu kompensieren, aber nicht zu stark, sonst wirst du nach links vom Weg abweichen. Und zähl mit. Eine Meile dürften zweitausend bis zweitausendfünfhundert Schritte sein. Grob geschätzt natürlich, denn das hängt vom Gelände ab. Und pass auf, dass du dir nicht mit einem Ast ein Auge ausstichst. Du bist schon durchlöchert genug.
Luke ging weiter. Wenigstens musste er sich nicht durch Gestrüpp hindurcharbeiten; stattdessen standen hier alte Bäume, die viel Schatten warfen. Außerdem war der Boden mit einer dicken Nadelschicht bedeckt, die das Wachstum von Unterholz verhinderte. Jedes Mal wenn Luke einen Umweg um einen der hohen Bäume machen musste (wahrscheinlich waren es Stroben, was sich im Dunkeln jedoch nicht recht erkennen ließ), versuchte er, sich wieder zu orientieren und in einer geraden Linie weiterzugehen, die inzwischen – das musste er zugeben – weitgehend hypothetisch war. Es war, als müsste er sich durch einen riesigen, mit kaum sichtbaren Gegenständen gefüllten Raum hindurchtasten.