Links von ihm grunzte es plötzlich, dann rannte etwas davon. Ein Ast brach ab, weitere raschelten. Luke, der Stadtjunge, erstarrte. War das ein Reh? Und wenn es ein Bär war? Ein Reh würde wegrennen, aber ein Bär hatte vielleicht Lust auf einen Mitternachtssnack. Wenn es einer war, dann tappte der jetzt womöglich wieder auf ihn zu, vom Geruch von Blut angezogen. Davon gab es an Lukes Hals und an der rechten Schulter seines T-Shirts bekanntlich mehr als genug.
Dann verstummte das Geräusch, und er hörte wieder nur noch die Grillen und den gelegentlichen Ruf der Eule. Als das Was-auch-immer davongelaufen war, hatte er etwa achthundert Schritte zurückgelegt. Während er nun weiterging, die Hände vor sich ausgestreckt wie ein Blinder, machte er mit dem Zählen weiter. Eintausend… zwölfhundert… er musste einen Baum umrunden, ein echtes Ungeheuer, dessen unterste Äste so weit über seinem Kopf waren, dass er sie nicht sah… vierzehnhundert… fünfzehnhun…
Luke stolperte über einen umgestürzten Baumstamm und schlug der Länge nach hin. Etwas, wohl ein Aststummel, bohrte sich in seinen linken Oberschenkel. Vor Schmerz stöhnte er auf. Eine kleine Weile blieb er auf den weichen Nadeln liegen, um zu Atem zu kommen. Dabei sehnte er sich – was für eine totale, tödliche Absurdität – nach seinem Zimmer im Institut zurück. Nach einem Zimmer, in dem es für alles einen Ort gab, in dem alles dort war, wo es hingehörte, und in dem keine Tiere von unbestimmbarer Größe durch die Bäume brachen. Ein sicherer Ort.
»Von wegen«, flüsterte er, stand auf und rieb sich den neuen Riss in seinen Jeans und die frische Schramme in seiner Haut darunter. Wenigstens haben sie keine Hunde, dachte er, weil ihm gerade ein alter Gefängnisfilm in Schwarz-Weiß eingefallen war, in dem zwei zusammengekettete Häftlinge entflohen waren, verfolgt von einem Rudel bellender Bluthunde. Außerdem waren sie in einen Sumpf geraten. Wo es Alligatoren gab.
Siehst du, Lukey, hörte er Kalisha sagen. Alles ist gut. Geh einfach weiter. Immer geradeaus, so gut wie du kannst jedenfalls.
Bei zweitausend Schritten fing Luke an, nach Lichtern Ausschau zu halten, die zwischen den Bäumen hindurchflackerten. Ein paar sieht man immer, hatte Maureen zu Avery gesagt, aber das gelbe ist am hellsten. Bei zweitausendfünfhundert Schritten wurde er allmählich nervös. Bei dreitausendfünfhundert war er sich sicher, dass er vom richtigen Weg abgewichen war, und zwar nicht nur ein bisschen.
Das war der Baum, über den ich gefallen bin, dachte er. Der verdammte Baum. Als ich wieder aufgestanden bin, bin ich falsch gegangen, und jetzt marschiere ich wahrscheinlich in Richtung Kanada. Wenn die Typen vom Institut mich nicht finden, werde ich hier im Wald krepieren.
Aber weil eine Rückkehr keine Option darstellte (er hätte den Weg selbst dann nicht gefunden, wenn er es gewollt hätte), ging er weiter. Er wedelte mit den Händen, um sich vor Ästen zu schützen, die ihn an weiteren Stellen verwunden wollten. In seinem rechten Ohr pochte es.
Die Schritte zählte er inzwischen nicht mehr, aber er war bei ungefähr fünftausend – weit mehr als zwei Meilen–, als er zwischen den Bäumen ein schwaches, orangegelbes Licht schimmern sah. Zuerst hielt er es fälschlich für eine Halluzination oder einen von den Blitzen, zu dem sich bald Schwärme von weiteren gesellen würden. Nach den nächsten zehn Schritten stellte sich jedoch heraus, dass die Sorgen unberechtigt waren. Das orangegelbe Licht war nun deutlicher, und außerdem sah er zwei weitere, wesentlich mattere Lichter. Es musste sich um elektrische Lampen handeln. Das hellste Licht war wohl eine Natriumdampflampe, wie man sie auf großen Parkplätzen aufstellte. Als Rolfs Vater mit Luke und Rolf eines Abends zum Multiplex von Southdale gefahren war, hatte er erzählt, dass man mit solchen Lampen Raubüberfälle und Autoaufbrüche verhindern wolle.
Luke spürte den Drang, einfach vorwärtszustürmen, bezähmte sich aber. Auf keinen Fall wollte er noch mal über einen umgestürzten Baumstamm fallen oder in ein Loch treten und sich das Bein brechen. Inzwischen waren noch mehr Lichter aufgetaucht, aber er richtete den Blick fest auf das erste. Der Große Wagen war nicht lange von Nutzen gewesen, aber jetzt hatte er einen neuen Leitstern, einen besseren. Zehn Minuten nachdem er das Licht zum ersten Mal erblickt hatte, erreichte er den Waldrand. Hinter etwa fünfzig Meter offenem Gelände erhob sich ein Maschendrahtzaun wie am Institut, aber der hier war mit Stacheldraht gekrönt und im Abstand von ungefähr zehn Metern mit Lichtpfosten bestückt. Die wiederum waren mit Bewegungsmeldern gekoppelt, hatte Maureen gesagt. Luke solle genügend Abstand halten. Das war ein Rat, den er eigentlich nicht gebraucht hätte.
Hinter dem Zaun standen kleine Häuser. Sehr klein waren die. Raum ist in der kleinsten Hütte, hätte Lukes Vater gesagt. Mehr als drei Zimmer konnten die nicht haben, wahrscheinlich sogar nur zwei. Alle sahen gleich aus. Laut Avery hatte Maureen von einem Dorf gesprochen, aber Luke fühlte sich eher an ein Kasernenareal erinnert. Jeweils vier Häuser waren zusammengruppiert, in der Mitte befand sich immer eine Rasenfläche. Hinter einigen wenigen Fenstern war es hell; wahrscheinlich hatten da die Leute das Licht im Bad angelassen, falls sie nachts aufstehen und zur Toilette gehen mussten.
Luke sah eine einzelne Straße, die an einem größeren Gebäude endete. Links und rechts davon war jeweils ein kleiner Parkplatz, auf dem Seite an Seite Pkws und Pick-ups standen. Insgesamt dreißig bis vierzig, schätzte Luke und erinnerte sich daran, dass er sich gefragt hatte, wo die Institutsmitarbeiter ihre Autos parkten. Jetzt wusste er es. Wie die Lebensmittel geliefert wurden, war ihm allerdings immer noch nicht klar. Vor dem Gebäude erhob sich der Mast mit der Natriumdampflampe, die zwei Zapfsäulen beleuchtete. Bestimmt war in dem Bau da eine Art Laden, die Institutsversion eines Army-Supermarkts.
Jetzt begriff Luke alles ein bisschen mehr. Das Institutspersonal hatte zwar manchmal Urlaub – Maureen zum Beispiel war eine Woche in Vermont gewesen–, blieb aber meistens in der Nähe und verbrachte seine Freizeit in diesen klapprigen Häuschen, wo es auch wohnte. Eventuell war die Arbeitszeit so eingeteilt, dass mehrere Leute zusammen untergebracht waren. Wenn sie Abwechslung brauchten, stiegen sie in ihre Privatwagen und fuhren in den nächsten Ort, der Dennison River Bend hieß.
Bestimmt waren die Einheimischen neugierig, was diese Männer und Frauen da mitten im Wald trieben. Sie würden also Fragen stellen, zu deren Beantwortung es eine Fantasiegeschichte geben musste. Luke konnte sich nicht vorstellen, was für eine (in diesem Moment war das auch nicht weiter wichtig), aber sie musste ziemlich einleuchtend sein, wenn sie so viele Jahre standgehalten hatte.
Geh am Waldrand entlang. Sieh dich nach einem Halstuch um.
Luke ging wieder los, Zaun und Siedlung zu seiner Linken, den Waldrand zu seiner Rechten. Wieder musste er gegen den Impuls ankämpfen, einfach loszurennen, vor allem weil er jetzt einen besseren Blick hatte. Die Unterhaltung mit Maureen war notwendigerweise kurz gewesen, zum einen, weil ein zu langes Palaver eventuell Verdacht geweckt hätte, und zum anderen, weil man sich irgendwann wohl gefragt hätte, wieso Avery sich ständig derart auffällig an die Nase fasste. Deshalb hatte Luke keine Ahnung, wo sich das Halstuch genau befand, und Angst, es zu verpassen.
Wie sich herausstellte, war das kein Problem. Maureen hatte es an den herabhängenden Ast einer hohen Kiefer gebunden, kurz vor der Stelle, wo der Zaun einen Knick nach links machte und sich vom Wald entfernte. Luke nahm es herunter und knotete es sich um die Taille, um seinen Verfolgern, die bald zu erwarten waren, kein derart auffälliges Zeichen zu hinterlassen. Dabei fragte er sich, wie lange Mrs. Sigsby und Stackhouse wohl brauchen würden, um dahinterzukommen, wer ihm bei seiner Flucht geholfen hatte. Wahrscheinlich nicht besonders lange.