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Sag ihnen alles, Maureen, dachte er. Warte nicht, bis sie dich foltern. Wenn du versuchst dichtzuhalten, werden sie dich nämlich in die Mangel nehmen, und du bist zu alt und zu krank dafür, ins Wasser getunkt zu werden.

Das helle Licht vor dem Gebäude, bei dem es sich vielleicht um einen Laden handelte, befand sich bereits ziemlich weit hinter ihm, und er musste sich sorgfältig umsehen, bevor er den alten Weg entdeckte, der in den Wald zurückführte. Vor langer Zeit hatten den wohl Holzfäller genommen. Sein Anfang war von einem Dickicht aus Blaubeersträuchern verdeckt, und obwohl Luke es eilig hatte, blieb er kurz stehen, um zwei Handvoll davon zu pflücken und sich in den Mund zu stopfen. Die Beeren waren süß und köstlich. Sie schmeckten nach draußen.

Sobald er den alten Weg gefunden hatte, konnte er ihm selbst im Dunkeln problemlos folgen. Auf dem erodierten Mittelstreifen wuchsen kleine Sträucher, die Fahrspuren waren durch eine doppelte Reihe von Gräsern und Kräutern markiert. Luke stieß zwar auf herabgefallene Äste, über die man treten (oder stolpern) konnte, aber es war unmöglich, versehentlich zwischen die Bäume zu geraten.

Zuerst machte Luke Anstalten, seine Schritte zu zählen, was er bis viertausend einigermaßen schaffte, aber dann gab er auf. Gelegentlich stieg der Weg an, führte jedoch meistens abwärts. Mehrere Male stieß Luke auf umgestürzte Bäume und einmal auf ein so dichtes Gestrüpp, dass er schon befürchtete, der alte Weg würde da enden, doch als er sich durchgeschlagen hatte, fand er die Fahrspuren wieder und konnte weitergehen. Er hatte keinerlei Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen war. Vielleicht war es eine Stunde, wahrscheinlich eher zwei. Nur dass es immer noch Nacht war, wusste er, und obwohl es unheimlich war, im Dunkeln hier draußen zu sein, vor allem als Stadtkind, hoffte er, dass es noch lange, sehr lange dunkel bleiben würde. Nur würde es das nicht tun. Zu dieser Jahreszeit kroch das erste Licht schon um vier Uhr morgens in den Himmel.

Als er die nächste Anhöhe erreichte, hielt er einen Moment inne, um sich auszuruhen. Das tat er stehend. Er glaubte eigentlich nicht, dass er einschlafen würde, wenn er sich hinsetzte, aber schon die Vorstellung jagte ihm Angst ein. Das Adrenalin, das ihn unter den stachligen Zaun hindurch und dann durch den Wald zur Siedlung getrieben hatte, war längst aufgebraucht. Die Wunden am Rücken, an den Beinen und am Ohr bluteten zwar nicht mehr, aber dort pochte und brannte es überall. Bei weitem am schlimmsten war das Ohr. Als er es behutsam berührte, zuckte er zurück, und er sog mit zusammengebissenen Zähnen scharf die Luft ein. Vorher hatte er jedoch bereits einen unregelmäßigen Klumpen aus verschorftem Blut gespürt.

Ich habe mich verstümmelt, dachte er. Das Ohrläppchen wird nie wieder nachwachsen.

»Diese Scheißkerle haben mich dazu gezwungen«, sagte er flüsternd. »Sie haben mich gezwungen.«

Da er es nicht wagte, sich hinzusetzen, beugte er sich vor und stützte sich auf die Knie. Die Haltung hatte er oft an Maureen gesehen. Gegen die Kratzer auf dem Rücken, die Wunden an den Beinen und das verstümmelte Ohrläppchen half das nichts, aber seine müden Muskeln entspannten sich ein bisschen. Er richtete sich auf und wollte weitergehen, hielt jedoch inne. Irgendwo vor sich hörte er ein leises Geräusch. Eine Art Rauschen wie der Wind in den Bäumen, aber auf der kleinen Anhöhe wehte nicht mal eine Brise.

Mach, dass es keine Halluzination ist, dachte er. Lass es wahr sein.

Fünfhundert Schritte weiter – die zählte er! – wusste Luke, dass es sich bei dem Geräusch tatsächlich um dahinströmendes Wasser handelte. Der Weg wurde breiter und steiler, bis er schließlich so abschüssig war, dass Luke seitwärts gehen und sich an Ästen festhalten musste, um nicht auf den Hintern zu fallen. Als links und rechts keine Bäume mehr zu sehen waren, blieb er stehen. Die Bäume waren nicht nur gefällt worden, man hatte auch die Stümpfe herausgerissen und eine Lichtung geschaffen, auf der jetzt Sträucher wuchsen. Dahinter sah er ein breites Band aus schwarzer Seide, so glatt, dass sich darin das Sternenlicht kräuselte. Er konnte sich vorstellen, dass die Holzfäller früherer Zeiten, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg in diesen nördlichen Wäldern gearbeitet hatten, die geschlagenen Bäume bis hierher transportiert hatten, mit Holzlastern von Ford oder International Harvester, wenn nicht gar mit Pferdegespannen. Die Lichtung war ihr Ziel gewesen. Hier hatten sie das Holz abgeladen und es zum Dennison River hinunterrutschen lassen, auf dem es seine Reise zu den Papierfabriken im Süden des Staates antrat.

Mit Beinen, die schmerzten und zitterten, mühte Luke sich abwärts. Die letzten fünfzig oder sechzig Meter waren am steilsten; hier war der Boden durch die Baumstämme, die vor langer Zeit darübergeglitten waren, bis zum Fels abgeschliffen. Luke setzte sich auf den Hosenboden und rutschte ebenfalls hinunter, wobei er sich an Sträuchern festhielt, um nicht zu schnell zu werden. Endlich kam er so abrupt auf dem felsigen Ufer zum Halten, dass ihm die Zähne klapperten. Er befand sich einen guten Meter über dem Wasser, und da – genau wie Maureen es versprochen hatte – lugte der Bug eines morschen alten Ruderboots unter einer grünen, mit Tannennadeln bedeckten Plane hervor. Es war mit einem Strick an einen zerklüfteten Baumstumpf gebunden.

Woher wusste Maureen von diesem Ort? Hatte jemand ihr davon erzählt? Aber darauf hätte sie sich wohl nicht verlassen, nicht wenn das Leben eines Jungen vom Vorhandensein dieses klapprigen alten Boots abhing. Vielleicht hatte sie es bei einem Spaziergang entdeckt, bevor sie krank geworden war. Oder sie war mit anderen – zum Beispiel mit den Frauen aus der Küche, mit denen sie mehr oder weniger befreundet war – von der kasernenartigen Siedlung zu einem Picknick hergekommen, mit Sandwiches und Cola oder einer Flasche Wein. Egal, Hauptsache, das Boot war da.

Luke ließ sich vorsichtig ins Wasser hinunter, das ihm bis zu den Knien reichte. Er bückte sich und schöpfte sich zwei hohle Hände in den Mund. Das Flusswasser war kalt und schmeckte noch besser als die Blaubeeren zuvor. Sobald er seinen Durst gelöscht hatte, versuchte er, das Seil aufzubinden, mit dem das Boot am Stumpf befestigt war, aber die Knoten waren kompliziert, und die Zeit verging. Schließlich nahm er das Schälmesser, um das Seil durchzusäbeln, wobei seine rechte Handfläche wieder zu bluten anfing. Schlimmer noch war, dass das Boot sofort davontrieb.

Er stürzte sich darauf, packte den Bug und zerrte das Ding ans Ufer zurück. Jetzt bluteten beide Handflächen. Trotzdem machte er sich daran, die Plane herunterzuzerren, doch sobald er das Boot losließ, wurde es von der Strömung wieder mitgezogen. Er verfluchte sich, weil er die Plane nicht als Erstes entfernt hatte. Das Ufer war zu hoch, als dass er das Boot hinaufziehen könnte, weshalb er am Ende das Einzige tat, was ihm übrig blieb. Er schlüpfte mit dem Oberkörper unter die Plane mit ihrem irgendwie fischigen Geruch nach uraltem Segeltuch, dann griff er nach der splittrigen Sitzbank und zog sich ganz hinein. Er landete in einer Wasserlache und auf etwas Langem und Kantigem. Im selben Moment wurde das Boot mit dem Heck voraus von der leichten Strömung flussabwärts gezogen.

Das ist ja ein richtiges Abenteuer, dachte Luke. Ja, tatsächlich, was ein Abenteuer!

Er setzte sich unter der Plane auf, die sich um ihn herumlegte und einen noch stärkeren Gestank von sich gab. Mit blutenden Händen schob und zerrte er sie von sich herunter, bis sie über Bord rutschte. Zuerst schwamm sie neben dem Boot, dann versank sie allmählich. Das kantige Ding, auf dem er gelandet war, entpuppte sich als ein Paddel, das im Gegensatz zum Boot relativ neu aussah. Maureen hatte das Halstuch an den Baum gebunden; hatte sie auch das Paddel für ihn hinterlassen? Er war sich nicht sicher, ob sie in ihrem jetzigen Zustand in der Lage gewesen wäre, es auf dem alten Holzweg hierher zu schaffen, geschweige denn das letzte Stück hinunter zum Ufer. Falls sie es doch getan hatte, verdiente sie ein episches Gedicht zu ihren Ehren – allermindestens. Und das alles, bloß weil er für sie ein paar Sachen im Internet recherchiert hatte, die sie wahrscheinlich selbst hätte finden können, wenn sie nicht so krank gewesen wäre? Luke wusste nicht, wie er über so etwas denken oder es gar begreifen sollte. Er wusste nur, dass das Paddel da war und dass er es benutzen musste, obwohl er erschöpft war und seine Hände bluteten.