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Immerhin wusste er, wie man damit umging. Er mochte ein Stadtjunge sein, aber Minnesota war das Land der zehntausend Seen, und Luke war mit einem seiner Großväter (der sich gern als »gewöhnliches altes Barschloch aus Mankato« bezeichnete) oft zum Angeln gegangen. Nun machte er es sich auf dem Sitz bequem und verwendete das Paddel erst dazu, das Boot so umzudrehen, dass der Bug stromabwärts zeigte. Nachdem ihm das gelungen war, paddelte er in die Mitte des Flusses, der hier etwa siebzig Meter breit war, und holte das Paddel ins Boot. Dann zog er die Schuhe aus und legte sie zum Trocknen auf den kleinen hinteren Sitz. Auf dem Sitz stand in verblichener schwarzer Farbe etwas geschrieben, was aus der Nähe lesbar war: S. S. Pokey. Luke musste grinsen. Er lehnte sich, auf die Ellbogen gestützt, zurück, blickte zu dem irrsinnigen Gewimmel der Sterne hinauf und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass alles kein Traum war – dass er es wirklich geschafft hatte zu fliehen.

Irgendwo links hinter ihm dröhnte der doppelte Trompetenstoß einer elektrischen Hupe. Als er sich umdrehte, sah er zwischen den Bäumen einen grellen Scheinwerfer aufflackern, der sein Boot zuerst streifte und dann weiterglitt. Die Lokomotive und den daran angehängten Zug sah er nicht, dazu standen die Bäume zu dicht, aber er hörte das Rumpeln der Wagen und das schrille Kreischen von Stahlrädern auf Stahlschienen. Das überzeugte ihn endgültig. Das Ganze war keine unglaublich detaillierte Fantasie, die sich in seinem Kopf abspulte, während er schlafend in seinem Institutsbett lag. Da drüben rollte ein echter Zug, wahrscheinlich in Richtung Dennison River Bend. Er saß in einem echten Boot und glitt auf einer trägen, wunderbaren Strömung gen Süden. Am Himmel standen echte Sterne. Natürlich würden die Handlanger von Mrs. Sigsby ihn verfolgen, aber…

»Ich lande nie im Hinterbau. Niemals!«

Er hielt eine Hand über die Kante der S. S. Pokey ins Wasser, spreizte die Finger und beobachtete, wie vier winzige Wellen hinter ihm ins Dunkel liefen. Im kleinen Aluminiumkahn seines Großvaters mit dem tuckernden Zweitakter hatte er das schon oft getan, aber noch nie war er vom Anblick der flüchtigen Erscheinung so überwältigt gewesen, nicht mal als Vierjähriger, für den alles neu und staunenswert gewesen war. Mit der Kraft einer Offenbarung wurde ihm bewusst, dass man eingesperrt gewesen sein musste, um ganz zu begreifen, was Freiheit bedeutete.

»Ich sterbe lieber, als mich zurückbringen zu lassen.«

Er wusste, dass es die Wahrheit war und dass es womöglich dazu kommen würde, aber er wusste auch, dass es momentan noch nicht so weit war. Luke Ellis hob seine verwundeten, tropfenden Hände in die Nacht, spürte die freie Luft darüberstreichen und begann zu weinen.

22

Während er so auf der Bank saß, die nackten Füße in der Wasserlache auf dem Boden, sank sein Kinn auf die Brust, die Hände baumelten zwischen den Beinen, und er döste ein. Womöglich hätte er noch geschlafen, während die Pokey ihn an der nächsten Station seiner unglaublichen Pilgerfahrt vorübertrug, wenn nicht wieder ein Zug gehupt hätte, diesmal nicht am Flussufer, sondern vor und oberhalb von ihm. Außerdem war das Geräusch lauter – kein einsames Tuten, sondern ein gebieterisches WAAA, bei dem Luke so abrupt aufwachte, dass er beinahe rückwärts ins Boot gefallen wäre. Noch während er zum Schutz automatisch die Hand hob, wurde ihm klar, wie kläglich die Geste war. Das Hupen verstummte; an seine Stelle traten ein metallisches Quietschen und ein tiefes, hohles Rumpeln. Luke packte die Kanten, wo das Boot zum Bug hin schmaler wurde, und starrte mit wildem Blick nach vorn. Er war sich sicher, dass er gleich überfahren werden würde.

Die Dämmerung ließ noch auf sich warten, aber der Himmel hatte sich bereits aufgehellt und warf seinen Schein auf den Fluss, der jetzt wesentlich breiter war. Etwa dreihundert Meter flussabwärts rumpelte ein Güterzug langsamer werdend über eine Bockbrücke. Luke sah geschlossene Wagen mit der Aufschrift New England Land Express und Massachusetts Red, zwei Autotransporter und einige Tankwagen, von denen einer mit Canadian Clean-Gas und ein anderer mit Virginia Util-X gekennzeichnet war. Als er unter der Brücke hindurchtrieb, hob er die Hand, um sich vor dem herunterrieselnden Dreck zu schützen. Mehrere Schotterbrocken klatschten auf beiden Seiten ins Wasser.

Luke griff nach dem Paddel, um das Boot zum rechten Ufer zu lenken, wo er einige trist aussehende Gebäude mit zugenagelten Fenstern und einen rostigen, offenbar schon lange ausgedienten Kran sah. Das Ufer war mit Papiermüll, alten Reifen und weggeworfenen Getränkedosen übersät. Der Zug, der die Brücke inzwischen überquert hatte, bremste kreischend und dröhnend immer noch ab. Vic Destin, der Vater von Lukes Freund Rolf, hatte einmal bemerkt, es gebe keine Transportmethode, die so dreckig und lärmig sei wie die Eisenbahn. Das hatte er in befriedigtem anstatt in angewidertem Ton gesagt, was keinen der beiden Jungen erstaunte. Mr. Destin war ein waschechter Eisenbahnfan.

Hier hatte Luke beinahe das Ende der von Maureen ausgetüftelten Schritte erreicht, und jetzt musste er nach einer Treppe Ausschau halten. Die Stufen waren rot. Aber nicht richtig rot, hatte Avery ihm mitgeteilt. Jedenfalls nicht mehr. Inzwischen sind sie eher rosa. Als Luke sie, fünf Minuten nachdem er unter der Brücke durchgekommen war, erspähte, waren sie nicht einmal mehr das. Auf den senkrechten Flächen konnte man zwar noch ein wenig rötliche Farbe erkennen, aber die Oberseite der Stufen war grau. Die Treppe führte vom Wasser zum Ufer hinauf und war etwa fünfzig Meter lang. Luke paddelte darauf zu, bis der Kiel auf die Stufe knapp unterhalb der Wasseroberfläche auflief.

Während er langsam an Land stieg, fühlte er sich so steif in den Gliedern wie ein alter Mann. Er überlegte, ob er das Boot anbinden sollte – der abgeschabte Rost an den Pfosten zu beiden Seiten der Stufen ließ erkennen, dass andere, wahrscheinlich Angler, so etwas schon getan hatten–, aber das restliche Seil, das noch am Bug hing, war zu kurz.

Er ließ das Boot los, das daraufhin sofort von der sanften Strömung erfasst wurde und sich in Bewegung setzte. Da sah er, dass seine Schuhe, in die er die Socken gesteckt hatte, noch auf dem Sitz am Heck standen. Hektisch kniete er sich auf die vom Wasser bedeckte Stufe und schaffte es gerade noch, das Boot zu erwischen. Hand über Hand zog er es an sich vorbei, bis er seine Schuhe zu fassen bekam. Dann murmelte er: »Danke, Pokey«, und ließ endgültig los.

Nachdem er einige Stufen hinaufgestiegen war, setzte er sich hin, um die Schuhe anzuziehen. Die waren einigermaßen getrocknet, doch jetzt war er anderswo klatschnass. Sein zerkratzter Rücken tat beim Lachen weh, aber er lachte trotzdem. Während er die Stufen erklomm, die früher rot gewesen waren, blieb er ab und zu stehen, damit seine Beine sich ausruhen konnten. Das Halstuch von Maureen – im Morgenlicht sah er, dass es lila war – löste sich von seiner Taille. Er wollte es schon liegen lassen, band es dann jedoch wieder fest. Bis hierher würde man seinen Weg wohl kaum verfolgen können, aber die Stadt war ein logisches Ziel, und er wollte kein Kennzeichen hinterlassen, das eventuell entdeckt wurde, und wenn auch nur durch Zufall. Abgesehen davon kam ihm das Halstuch wichtig vor. Es war… er suchte nach einem Wort, das der Bedeutung wenigstens nahekam. Kein Glücksbringer, sondern ein Talisman. Weil es von Maureen stammte, und die war seine Retterin.