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Als er die letzte Stufe erreicht hatte, stand die Sonne groß und rot über dem Horizont; ihr Licht fiel auf ein Geflecht aus Eisenbahngleisen. Der Güterzug, unter dem Luke hindurchgetrieben war, stand nun auf dem Rangierbahnhof von Dennison River Bend. Während die Lokomotive, die ihn dorthin gezogen hatte, langsam davonrollte, näherte sich eine hellgelbe Rangierlok dem anderen Zugende und würde ihn bald auf die Gleise schieben, wo die Züge getrennt und neu zusammengesetzt wurden.

In Lukes Schule waren die Feinheiten des Güterverkehrs nicht unterrichtet worden, da der Lehrkörper sich für esoterischere Themen wie fortgeschrittene Mathematik, Klimakunde und neuere englische Lyrik begeisterte. Die einschlägigen Lektionen stammten vielmehr von Vic Destin, einem eingefleischten Eisenbahnenthusiasten und stolzen Besitzer einer riesigen Modellbahnanlage, die er in seinem Keller aufgebaut hatte. Luke und Rolf hatten dort viele Stunden als willige Gehilfen verbracht. Rolf war es darum gegangen, die Züge fahren zu lassen; auf Informationen über echte Eisenbahnen hätte er gut und gern verzichten können. Luke hingegen war an beidem interessiert gewesen. Hätte Vic Destin Briefmarken gesammelt, so hätte Luke seine philatelistischen Aktivitäten mit demselben Interesse verfolgt; so war er eben gepolt. Genau deshalb kam er den Leuten wohl leicht unheimlich vor (auf jeden Fall hatte er Rolfs Mutter ab und zu dabei erwischt, dass sie ihn mit einem entsprechenden Blick betrachtete), aber momentan war er ausgesprochen froh über die leidenschaftlichen Vorträge von Mr. Destin.

Maureen wiederum wusste bestimmt praktisch nichts über Eisenbahnen, nur dass es in Dennison River Bend einen Güterbahnhof gab. Die Züge, die hier durchkamen, fuhren ihrer Meinung nach an vielerlei Orte. Was für Orte das waren, war ihr unbekannt.

»Sie meint, wenn du es bis dahin schaffst, kannst du vielleicht auf einen Güterzug springen«, hatte Avery gesagt.

Tja, er hatte es tatsächlich bis hierher geschafft. Ob er wirklich auf einen Güterzug springen konnte, war eine andere Frage. In Filmen hatte er das zwar schon gesehen, und da hatte es problemlos geklappt, aber in den meisten Filmen wurde jede Menge Mist verzapft. Vielleicht war es besser, in das sogenannte Stadtzentrum von diesem Kaff hier zu marschieren, um die Polizeistation aufzusuchen, falls es eine gab, und andernfalls bei der State Police anzurufen. Bloß womit sollte er anrufen? Er hatte kein Handy, und öffentliche Telefone waren vom Aussterben bedroht. Selbst wenn er eines fand, was sollte er in den Münzschlitz werfen? Eine von seinen Wertmünzen aus dem Institut? Den Notruf konnte er zwar wohl kostenlos wählen, aber war das der richtige Schachzug? Irgendetwas hielt ihn davon ab.

Da stand er also an einem Tag, der viel schneller hell wurde, als ihm lieb war. Nervös zupfte er an dem Halstuch um seine Taille. Es gab weitere Argumente dagegen, sich so nah am Institut an die Polizei zu wenden; er erkannte sie selbst in seinem von Angst und Erschöpfung gekennzeichneten Zustand. Die Polizei würde bald herausfinden, dass seine Eltern ermordet worden waren und er als mutmaßlicher Täter gehandelt wurde. Problematisch war auch Dennison River Bend selbst. Städte existierten nur dort, wo Geld hereinkam, Geld war ihr Lebenssaft, und woher kam das Geld in Dennison River Bend? Nicht von dem Rangierbahnhof da, der bestimmt weitgehend automatisch betrieben wurde. Auch nicht von den trist aussehenden Gebäuden, an denen er vorübergetrieben war. Früher waren das wohl Fabriken gewesen, aber die Zeiten waren vorüber. Dafür gab es da draußen in einer nicht zur Gemeinde gehörenden Siedlung eine gewisse Einrichtung (»Regierungskram«, das würden die Einheimischen sagen und sich wissend beim Friseur oder auf dem Marktplatz zunicken), und die Leute, die dort arbeiteten, hatten Geld. Es waren Männer und Frauen, die regelmäßig in die Stadt kamen, und zwar nicht nur um jene Kneipe namens Outlaw Country aufzusuchen, wenn dort irgendeine beschissene Band spielte. Sie brachten Dollars mit. Vielleicht trug das Institut auch zum Gemeinwohl bei, indem es ein Gemeindezentrum oder einen Sportplatz gespendet hatte oder indem es sich an der Instandhaltung des Straßennetzes beteiligte. Alles, was diese Dollars gefährdete, würde man mit Skepsis und Missfallen betrachten. Eventuell wurden die städtischen Amtsträger sogar regelmäßig bestochen, damit sie dafür sorgten, dass das Institut nicht die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich zog. Waren das paranoide Gedanken? Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht.

Luke konnte es kaum erwarten, Mrs. Sigsby und ihre Handlanger auffliegen zu lassen, aber momentan war es am besten und sichersten für ihn, so weit Abstand vom Institut zu gewinnen wie möglich.

Die Rangierlok schob mehrere Güterwagen die Anhöhe hinauf, die man im Eisenbahnerjargon als Ablaufberg bezeichnete. Auf der Veranda vor dem hübschen kleinen Dienstgebäude des Bahnhofs standen zwei Schaukelstühle. Auf einem saß ein Mann in Jeans und hellroten Gummistiefeln mit einer Zeitung und einem Becher Kaffee. Als der Lokführer auf die Hupe drückte, legte der Mann seine Zeitung weg, trottete die Treppe hinunter und blieb stehen, um zu einem verglasten Häuschen auf Stahlstützen hinaufzuwinken. Ein Typ, der drinnen saß, winkte zurück. Das musste der Stellwerker sein, während der Typ mit den roten Stiefeln als Rangierer bezeichnet wurde.

Rolfs Vater klagte immer über den miserablen Zustand des amerikanischen Eisenbahnverkehrs, und jetzt sah Luke, was er meinte. Die Gleise führten in zahllose Richtungen, aber es hatte den Anschein, dass zurzeit nur noch vier oder fünf in Betrieb waren. Die anderen waren von Rostflecken überzogen, zwischen den Schienen wucherte Unkraut. Auf manchen standen ausgemusterte Güterwagen, teils geschlossen, teils offen, die Luke als Deckung benutzte, während er sich an das Stationsgebäude heranschlich. An einem der Verandapfosten sah er ein Klemmbrett an einem Nagel hängen. Wenn das die heutige Auftragsliste war, wollte er sie studieren.

Unweit vom Stellwerk hockte er sich hinter einen hohen ausgemusterten Wagen und schielte darunter hindurch, während der Rangierer zu den Gleisen ging. Der neu eingetroffene Güterzug hatte jetzt die Kuppe des Ablaufbergs erreicht, weshalb der Stellwerker seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten musste. Falls Luke doch entdeckt wurde, würde man ihn wahrscheinlich für ein harmloses Kind halten, das wie Mr. Destin ein glühender Eisenbahnfan war. Allerdings kamen solche Kinder meistens nicht um halb sechs Uhr morgens an, um sich irgendwelche Züge anzuschauen, egal wie fanatisch sie waren. Erst recht nicht, wenn sie völlig durchnässt waren und mit einem übel verstümmelten Ohr herumliefen.

Egal, er hatte keine andere Wahl. Er musste sehen, was auf dem Klemmbrett stand.

Der Mann mit den roten Stiefeln trat auf den ersten Wagen zu, der langsam an ihm vorbeifuhr, und löste die Kupplung zum nächsten. Von der Schwerkraft bewegt, rollte der erste Wagen – auf der Seite stand in roten, weißen und blauen Lettern STATE OF MAINE PRODUCTS – die schräge Ebene hinunter. Seine Geschwindigkeit wurde durch radargestützte Sensoren kontrolliert. Der Stellwerker betätigte einen Hebel, worauf STATE OF MAINE PRODUCTS auf Gleis 4 geleitet wurde.

Luke ging um den Güterwagen herum und schlenderte auf das Betriebsgebäude zu, die Hände in den Hosentaschen. Er atmete erst dann wieder gleichmäßig, als er sich unter dem Stellwerk befand und von dem Mann da oben nicht mehr gesehen werden konnte. Aber wenn der seine Arbeit richtig machte, hatte er den Blick ohnehin auf den Zug da gerichtet und nicht sonst irgendwohin.

Das nächste Element, ein Tankwagen, wurde auf Gleis 3 geschickt, ebenso wie zwei zusammenhängende Autotransporter. Die krachten aneinander, rumpelten und grollten. Die Modelleisenbahnzüge von Vic Destin waren ziemlich leise, aber hier herrschte ein Höllenlärm. Die im Umkreis von einer Meile wohnenden Leute bekamen drei- bis viermal am Tag offenbar ganz schön was zu hören. Vielleicht haben sie sich daran gewöhnt, dachte Luke. Eigentlich war das kaum zu glauben, aber dann dachte er an die Kinder, die im Institut täglich ihrem Leben nachgingen – indem sie sich den Magen vollschlugen, Alcopops tranken, ab und zu eine Zigarette rauchten, auf dem Spielplatz herumalberten und nachts mit dämlichem Gebrüll durch die Gegend rannten. Wahrscheinlich konnte man sich an alles gewöhnen. Was ein furchtbarer Gedanke war.